„In der Lernwerkstatt ist das Bewusstsein oder die Idee dafür da, dass vor der Rechtschreibung entwicklungsmäßig etwas anderes kommt: nämlich diese phonetischen Phasen der Schreibentwicklung.“ Ein Interview zur Thematik von Ingrid Ratheiser mit Antonia Stängl.
Beim letzten Eltern-Begleiter-Abend wurde uns die natürliche (oder auch phonetische) Schreibentwicklung, wie sie in der Lernwerkstatt begleitet wird, nähergebracht. Das Thema dieser Freigeistausgabe ist „NORMEN“. Normen generieren sich aus Werten. Eine fundierte Rechtschreibung hat in unserer Gesellschaft einen immens hohen Wert und geht so weit, dass die fehlende Kompetenz darin – oder nur teilweises Beherrschen – den dahinterstehenden Menschen als nicht gesellschaftsfähig bis hin zu unhöflich, sprich minderwertig, stigmatisiert. Wie denkst du darüber?
Ich glaube nicht, dass wir bei uns in der Lernwerkstatt diesen Wert nicht auch haben, die Rechtschreibung bleibt ja wichtig. Vielleicht ist sie aber für Menschen, die in der Lernwerkstatt sind, für Eltern, deren Kinder hier zur Schule gehen, nicht so die „heilige Kuh“. Wir reflektieren ja auch anders über dieses Thema. Es wird sehr offen darüber gesprochen. Dem einen fällt es leichter, dem anderen fällt es schwerer, und so ist das nun mal mit der Rechtschreibung. In der Lernwerksatt herrscht nicht das abstrakte „So muss es sein“, sondern sie ist ein Mittel zum Zweck. Man soll so schreiben können, dass man verstanden wird. Der wirkliche Unterschied ist, dass in der Lernwerkstatt das Bewusstsein oder die Idee dafür da ist, dass vor der Rechtschreibung entwicklungsmäßig etwas anderes kommt: nämlich diese phonetischen Phasen der Schreibentwicklung.
Natürlich bleibt die Rechtschreibung das Endziel – nur davor gibt es noch andere Phasen, die man durchlaufen kann, wenn man das darf. Ich vergleiche das mit der Idee, dass alle Kinder irgendwann gehen lernen. Ich sage den „Krabblern“ ja auch nicht, dass das, was sie tun, nicht gehen ist und deswegen falsch ist und sie es unterlassen sollen. Aber das Ziel bleibt: am Ende wollen sie aufrecht gehen. Hier gibt es, das Schreiben betreffend, eine Entwicklungsphase, welche im Regelschulsystem nicht berücksichtigt, also übersprungen wird. Wahrscheinlich aus der Sorge heraus, dass, wenn sie berücksichtigt würde, die Rechtschreibung darunter leiden würde. Ich habe bei meinen erwachsenen Kindern das Gefühl – und tatsächlich ist es so – dass es für sie nie diese Bedeutung haben wird. Sie können es zwar, aber es ist ihnen nicht so wichtig, wie es mir war.
Deiner Meinung nach bekommt der innere Ausdruck in Bezug zur natürlichen Schreibentwicklung eine große Bedeutung. Nimmt dieser Zugang, samt den natürlichen Entwicklungsschritten, Kindern, denen das Schreiben schwerer fällt, die „Qual“ des Erlernens? Und leidet in Folge der gesunde Selbstwert der Kinder nicht darunter?
Ich würde dir jetzt so gerne antworten, dass Kinder aus der Lernwerkstatt ganz frei sind von diesem Thema. Aber ich glaube, es ist aus einem einfachen Grund nicht möglich, denn sie sind nicht frei davon, weil es gesellschaftlich, kollektiv ein so großes Thema ist. An irgendeiner Stelle kommen sie zu diesem Schnittpunkt. Je nachdem, wo sie stehen, wenn sie zu diesem Übergang zum normalen System kommen, hat es plötzlich wieder diese konditionierte Bedeutung und deswegen passiert es leider auch, dass Kinder oder junge Erwachsene, die dieses Thema in ihrer Entwicklung nicht erfahren haben, dann trotzdem darunter leiden.
Wenn sie jedoch sogenannt „zeitgerecht“, mit zwölf, dreizehn bzw. vierzehn Jahren in der genormten Rechtschreibung landen, dann kommt es laut meiner Erfahrung nicht zu einem Selbstwerteinbruch. Meine Tochter hat immer gerne und viel geschrieben. Für meinen Sohn war das Schreiben im Lernwerkstattkontext immer Mittel zum Zweck. Die Rechtschreibung an sich hatte er mit zwölf gut integriert. Jedoch das „viel Schreiben“ im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren war in diesem Lebensabschnitt nicht gegeben. Als er dann in das universitäre Geschehen wechselte, war die fehlende Übung des Schreibens bemerkbar. Mit seinem Selbstwert hatte das allerdings gar nichts gemacht. Die fehlende Schreibroutine konnte er gut annehmen, seine Antwort darauf war – und das ist so eine gewachsene `Lernwerkstättlereinstellung´: „Wenn ich was noch nicht kann, dann lerne ich es halt.“
Leider können wir diese Problematik nicht wegzaubern. Die Frage, die sich Begleiter und Eltern zum Thema Schreibentwicklung und Rechtschreibung in der Lernwerkstatt stellen, ist: wie können wir verantwortungsvoll mit der Thematik umgehen? Wie weit können wir unsere Kinder schützen? Wir können aber auch nicht so tun, als gäbe es diesen gesellschaftlichen Druck nicht. Auch wenn das Schreiben nicht das Hauptmedium von Schülern ist: Wenn die Kinder schreiben, schreiben sie so, wie sie schreiben – individuell. Sie schreiben nicht so, wie jemand anderer es stilistisch gerne hätte. Ich glaube, das ist in der Lernwerkstatt ziemlich sicher: dass die Schüler nicht die Idee bekommen „So sollte ich schreiben, so ist es richtig.“
Also wenn sich der Bogen der natürlichen/phonetischen Schreibentwicklung vom wahrhaftigen inneren Ausdruck bis hin zum Mittel zum Zweck spannt und der Pfeil in der genormten Rechtschreibung landet, bleibt das individuelle Menschsein dahinter unangetastet und Humanität und Selbstverwirklichung bedingen, ja vollenden sich?
Wir dürfen hier nicht vermischen: einerseits geht es um die natürliche Schreibentwicklung und andererseits um die genormte Rechtschreibung. Das eine schließt das andere keineswegs aus. Wesentlich ist, dass in der phonetischen Schreibentwicklung die Rechtschreibung zum Schluss kommt. Während sie im Regelschulwesen an den Anfang gesetzt wird und dadurch die Gefahr des Verlorengehens des individuellen, inneren, kreativen Ausdruckes, eher gegeben ist.
Danke für das Gespräch!