Das Herz der Lernwerkstatt

Ein Interview mit Theo Feldner, nun das fünfte Jahr pädagogischer Leiter der Lernwerkstatt, von Maria Altmann-Haidegger.

Theo, du hast bei der Klausur in Istrien vom Herz der Lernwerkstatt als Zentrum der Pädagogik  gesprochen. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Das Herz der Lernwerkstatt – gute Frage! In den letzten 24 Jahren, seit ich mit dieser Pädagogik beschäftigt bin, war ich öfters mal in der Rolle, dass ich möglichst kurz erklären sollte, was das Wichtigste ist und wie diese Pädagogik funktioniert und da könnte man ja Bücher darüber schrei-ben, aber es geht einfach mal darum, ein Bild zu kreieren, was das Herz, was das Wichtigste sein kann. Und da hat sich etwas herauskristallisiert, mit dem man recht gut arbeiten kann.

Sei das nun mit Eltern oder Menschen, die zum ersten Mal von dieser Pädagogik hören oder auch im Team – weil ja meiner Ansicht nach diese Pädagogik noch nicht fertig ist, sondern eine Idee, der wir folgen und die immer wieder hinterfragt wird, in die man sich immer wieder vertiefen kann. Wichtig ist aber mal ein großer Überblick, damit man weiß, wo man umgeht  – wenn man jetzt von Nichtdirektivität oder sozialen Prozessen, von Kulturtechniken im nichtdirektiven Bereich redet.

Da hat sich nun ein Bild herauskristallisiert – ein Arbeitsbild irgendwie – das aus drei Kreisen besteht, die miteinander verbunden sind. 

Was ist in diesem Bild von den drei Kreisen im ersten Kreis?

Im ersten Kreis, das ist für mich das Wichtigste und das betrifft auch nicht nur die Lernwerkstatt, sondern alle Bereiche, wo Menschen mit Menschen arbeiten – wo Menschen mit Natur arbeiten, mit Tieren arbeiten, mit Lebewesen arbeiten – dass im Zentrum die Liebe steht – die bedingungslose Liebe.

Das ist natürlich ein Wort, das so viel bedeuten kann, dass es fast schon wieder provokant ist, und das heißt auch nicht, dass man das hat, sondern dass man an dem arbeitet. Bedingungslos heißt hier nicht unendlich, sondern nicht an Bedingungen geknüpft. Das heißt, alle Beteiligten sind einmal prinzipiell in Ordnung, so wie sie sind.

Gibt es diesen Ansatz nicht auch zum Beispiel bei der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie von Carl R. Rogers?

Ja, da ist dann die Rede von der bedingungslosen Wertschätzung allen Beteiligten gegenüber. Es ist auch nicht so wichtig, welches Wort hier steht, sondern was die Idee dahinter ist. 

Wenn man nun immer wieder davon ausgeht, dass man eine bedingungslose Wertschätzung allen Beteiligten gegenüber, sei es jetzt den Kindern gegenüber, den Eltern gegenüber, den Kolleginnen und Kollegen gegenüber ins Zentrum stellt, dann merke ich, dass das eine große Kraft ist. Da fühlt man sich wohl, da spürt man, ich bin am richtigen Ort. Dass man sich immer wieder damit beschäftigt – das heißt nicht, dass das eine Voraussetzung ist – sondern dass man daran arbeitet, das ist ganz wichtig.

Wenn ich so an Kinder herangehe, sogenannte schwierige Kinder, Kinder, die einem mit ihren Mustern und Befindlichkeiten auf die Nerven gehen, und mich wieder erinnere, was das Zentrum ist, dann kann ich sie abholen. Dann weiß ich, okay, das ist jetzt dein Verhalten, aber du bist prinzipiell in Ordnung. Dass ich nicht gleich in eine Wertung gehe, sondern das ist jetzt da, und ich nehme es wertfrei, so wie es ist. Das ist eine ganz andere Kraft, als wenn ich gleich in die Wertung gehe und sage, das sind schlimme Kinder, die brauchen Grenzen, die brauchen Regeln – was ja auch okay ist. Aber die Haltung ist eine andere, wenn man von diesem Wohlwollen dem Kind gegenüber ausgeht, das hat eine ganz große Kraft.

Im sozialen Bereich, besonders bei uns, wo die Kinder so viel frei spielen und sich frei bewegen und die ganze Zeit in  sozialen Dynamiken sind, ist das besonders wichtig. Aber auch in anderen Bereichen, in Regelschulen, an allen Orten, wo Menschen miteinander arbeiten, finde ich die bedingungslose Wertschätzung einfach ganz wichtig. Das ist jetzt gar nicht nur in der Lernwerkstatt so, sondern es ist das Zentrum einer Pädagogik, wo es um ein Miteinander, wo es um den Menschen geht!

Auch im Umgang mit den Eltern, mit ihren Problemen, ihren Sorgen, ihrer Kritik, gehen wir in die Haltung, dass es prinzipiell einmal wertgeschätzt und nicht bewertet wird. Aus dieser Haltung, aus diesem grundsätzlichen Wohlwollen heraus wird dann die Lösung gesucht.

Auch wenn wir im Team zusammensitzen und den Tag oder die Woche reflektieren, holen wir uns immer wieder her, worum es hier eigentlich geht, und dann merke ich, dass sich die Haltung zum Problem ändert. Sonst ist man oft so in seinen Mustern drinnen. Wenn ich mich auf dieses Zentrum der bedingungslosen Liebe besinne, merke ich, dass es zum Wohle aller ist. Dann komme ich aus der negativen Emotion in die Ruhe, bekomme ich wieder mehr Luft und richte den Fokus darauf, worum es eigentlich geht. 

Wie kann ich in eine Haltung der bedingungslosen Liebe kommen?

In diesem Zusammenhang ist es auch ganz wichtig, dass man in die Reflexion geht, in die Selbstreflexion.  

Man darf hier nicht vergessen, dass es das Wichtigste beim inneren Kreis ist, dass man das mit sich selber kann:  Die bedingungslose Wertschätzung sich selbst gegenüber –  die Selbstliebe – gehört zum Schwierigsten, weil es da oft noch blinde Flecken gibt. Da ist es so wichtig, sich selbst mit Liebe zu sehen, denn was ich mit mir selbst nicht kann, kann ich mit anderen auch nicht.

Siehst du die bedingungslose Wertschätzung dir selbst gegenüber als Voraussetzung?

Ja, es  ist die Voraussetzung!  Dass ich mich – auch beruflich – zuerst einmal mit mir beschäftigen muss, mich für mich interessieren muss. Denn wenn Interesse da ist, ist auch Kraft da. Das klingt jetzt vielleicht etwas ungewöhnlich – aber für mich ist die bedingungslose Wertschätzung mir selbst gegenüber ein Ankerpunkt, an den ich mich immer wieder erinnere.

Wenn ich jetzt grantig bin oder genervt oder müde oder überarbeitet, dann passiert es noch viel leichter, dass ich in alte Muster hineinfalle, die noch nicht bearbeitet sind,  und dann frage ich mich, worum es eigentlich geht, dass ich mal zu mir komme, durchatme, mich um mich selbst kümmere und dann um das andere, was da ist. Das ist für mich ein ganz zentraler Gedanke – und in der Praxis wirkt es einfach sehr gut.

Die Arbeit an sich selber ist überall wichtig, nicht nur in der Lernwerkstatt! Egal, ob ich Arzt bin in einem Krankenhaus oder in einem Geschäft oder Mutter oder Vater oder Partnerin oder Partner…. auch im Umgang mit Kindern, mit Eltern, mit Behörden (lacht) ist das zentral.

Wie sehen das Rebeca und Mauricio Wild, die Begründer des „Pesta“, einer aktiven Schule in Ecuador, die für die Lernwerkstatt in vielem ja richtungsweisend ist?

Ja, das habe ich bei den Wilds so eindrücklich in Erinnerung, dass die das auch ins Zentrum gestellt haben.  Ich erinnere mich, dass Mauricio einmal gesagt hat, ohne Liebe ist ein Kind gar nicht lebensfähig! Es gibt ja da auch das Experiment von Kaiser Friedrich, der wissen wollte, welche Sprache Babys sprechen, wenn man nie mit ihnen spricht, ihnen keine Liebe gibt. Das hat gezeigt, dass Kinder die Liebe zum Leben brauchen, denn die Kinder im Experiment sind gestorben.

Die Wilds sprechen in diesem Zusammenhang auch von Respekt, da Liebe so viel bedeuten kann und jeder Mensch etwas anderes damit verbindet. Da geht es um die Sprache, aber die Idee dahinter ist wichtig. Und die ist die gleiche.

Worum geht es dann beim zweiten Kreis?

Auch bei diesem Begriff handelt es sich sozusagen um einen „Arbeitstitel“ – das ist in Bezug auf unsere Schule die Nichtdirektivität und der Respekt vor Lebensprozessen. Rebecca und Mauricio Wild haben im Zusammenhang mit dem Respekt vor Lebensprozessen immer das Bild von der Zelle genommen. Diese Zelle hat eine Membran, die das Innenleben schützt, vor der chaotischen Umwelt, die alles Mögliche sein kann, Krieg, Hitze, Kälte, ….draußen ist Chaos, innen ist die Intelligenz, das, was weiß, was es eigentlich braucht. Die Membran schützt das Innere. Wenn die Membran durch verschiedene Ereignisse durchlöchert wird, dringt Chaos , Unordnung in das Innerste ein. Wenn das der Zelle passiert, wird sie nicht mehr lebensfähig sein. Das ist als Bild zu sehen für das Innere und die Membran, die immer so wichtig war für die Wilds und die stark sein soll und draußen ist die Umgebung. Medien, Ernährung, ungeeignete Erlebnisse, Todesfälle – alles, was es halt gibt und ohne diese Membran ist das Geordnete nicht lebensfähig.

Ist die Membran durchlässig?

Die Wilds sprechen von einer halbdurchlässigen Membran. Es kommt nicht alles rein, es kommt das rein, was es braucht: Wasser, Licht, aber keine Gifte – wenn wir beim Bild von der Zelle bleiben.

Die Membran kann beschädigt werden durch Direktivität.  Wenn man zum Beispiel sagt: „Du kriegst Liebe, aber nur unter bestimmten Bedingungen!“ Und dann macht derjenige das, obwohl er es gar nicht will, aber es ist im Moment für ihn mehr Gewinn, wenn er es macht, denn wenn er es nicht macht, kriegt er keine Liebe und das geht gar nicht. So kann man Kinder zu allem bringen. Durch nette Worte, aber es ist an Bedingungen geknüpft. Wenn das nun ein Mensch ist, den das Kind gern mag, tut es das ihm zuliebe. Aber das ist dann eigentlich der Sündenfall. Wenn ich etwas tue, was nicht gut ist für mich, um jemandem zu gefallen.

Aber auch im Innersten des zweiten Kreises ist der erste Kreis – die bedingungslose Liebe. 

Kannst du dich noch erinnern, wie du das in deiner Kindheit erlebt hast?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich diese bedingungslose Liebe zum ersten 

Mal erlebt habe. Das war ein ganz unglaublich schönes Gefühl! Wenn man einfach in Ordnung ist, wie man ist. Das war sehr berührend. Vielleicht ist es mir deshalb auch so wichtig. Man kennt dieses Gefühl ja ursprünglich, weil man es letztlich ja ist. 

Ich bin am Bergbauernhof in Osttirol mit sehr liebevollen Eltern aufgewachsen, aber damals hat das Umfeld nicht so darauf geschaut, was man eigentlich braucht. Das war eine karge Welt, da ist es ums Überleben gegangen. Meine Großeltern zum Beispiel, die haben zwei Weltkriege miterlebt. Das war auch ein moralisch sehr einschränkendes Umfeld, wo auf die eigenen Bedürfnisse nicht geachtet wurde.

Werden in der Lernwerkstatt die Nichtdirektivität und der Respekt vor Lebensprozessen immer umgesetzt?

Auch in der Lernwerkstatt ist es nicht immer ideal, aber es geht um das Bemühen. Wenn Kinder wirklich frei sind, etwas zu machen, und nicht, weil es die Mama oder der Begleiter will, dann spürt sich das ganz anders an. Und dann ist eine ganz andere Kraft da, wenn das Kind es ganz für sich macht.

In unserer Schule, die ja eigentlich eine ganz normale, aber andererseits auch sehr gewagte Schule ist und in unserer Gesellschaft hervorsticht durch Radikalität, >> 

wird  versucht, die Nichtdirektivität und den Respekt vor Lebensprozessen umzusetzen, das entwickelt dann eine Strahlkraft. 

Das ist viel Arbeit und es ist nie fertig. Das war immer ein Traum von mir, an so einem Projekt mitzuarbeiten, sodass auch die folgenden Generationen etwas davon haben, wenn die Schule ausstrahlt in die Zukunft – nicht nur in Pottenbrunn 2018. 

Und da ist es immer auch sehr wichtig zu schauen, was nicht so gut funktioniert – zu experimentieren und zu reflektieren. Nicht dass es immer besser wird – wertend gemeint: besser, besser, besser – sondern, dass es immer passender wird. 

Es ist dieser zweite Kreis, der uns so unterscheidet von anderen Schulen, dieser radikale nichtdirektive Ansatz. Das unterscheidet uns auch von anderen privaten Schulen, wo man zwei Stunden was gemeinsam lernt und dann ist frei. Bei uns ist es ganz frei und das ist auch so gewollt. Davon werden auch die Eltern vorher informiert, welche Schule wir sind.

Was ist nun der dritte Kreis?

Alles andere, was Schule ausmacht: zum Beispiel die entspannte vorbereitete Umgebung, die von den Bedürfnissen von Kindern ausgeht. In der Lernwerkstatt haben wir Kinder zwischen 6 und 17 Jahren – und da ist zu schauen, was sind die authentischen Bedürfnisse – schon wieder so ein Wort, das haben wir auch von den Wilds übernommen.

Was sind authentische Bedürfnisse?

Bewegung zum Beispiel. Und dass das auch immer möglich ist, dazu braucht es eine vorbereitete Umgebung. Wenn ich jetzt zum Beispiel die Einräder hernehme, dass die Umgebung so vorbereitet ist, dass die Kinder ihren Bedürfnissen nachgehen können. 

Unsere Schule ist so aufgebaut, dass es verschiedene Bereiche gibt, wo die authentischen Bedürfnisse der Kinder erfüllt werden können: Feuer machen bis Mathe machen, malen, Musik machen, gemeinsam auf Reisen gehen, ein Polsterhaus bauen, Rollenspiele im Rollenspielbereich… spielen überhaupt, das ist ja ein Ur-Bedürfnis!

Zum dritten Kreis gehören auch die ganzen Lernmaterialien dazu, die Montessori-Materialien, Schulbücher – also der ganze Schulstoff gehört auch in diesen Kreis. Auch wie man das macht: mit Angeboten, mit Kursen, mit individuellem Lernen… Da ist ganz viel Fleisch. 

Und der äußere Kreis ist auch immer veränderbar. Der erste Kreis ist hier viel weniger veränderbar, da kann man immer nur mehr erfassen, was das ist, aber ich kann nicht sagen, na tun wir das mal weg und ersetzen wir es beispielsweise durch Kontrolle – das wäre nicht verhandelbar.

Und auch der zweite Kreis ist nicht veränderbar. Aber draußen kann man ganz viel verändern. Daraus entsteht für mich dann das, was die Lernwerkstatt ist. Im äußeren Kreis ist auch die ganze Schulerhaltung dabei. Aber wieder nicht nur im äußeren Kreis, sondern es muss mit dem inneren Kreis verbunden sein.

Wenn wir uns jetzt zum Beispiel im Team das Thema Kulturtechniken anschauen. Das Thema ist im äußeren Kreis, aber es ist wichtig, bei der Umsetzung immer auch den inneren Kreis, die bedingungslose Liebe und den zweiten Kreis, den Respekt vor Lebensprozessen und die Nichtdirektivität mit zu berücksichtigen. 

So ist für mich in dieser Hinsicht bei den Älteren eine längere Kontinuität in der Begleitung wichtig, denn Prozesse kann man nicht übergeben, das müsste man sonst wieder neu aufbauen – die Beziehung, dass man weiß, welchen Plan der Jugendliche hat. Es ist ja möglich, dass ein Jugendlicher problemlos in eine höhere Schule umsteigt. Die Herausforderung ist dann, wie ist in unserem System eine gute Begleitung dahingehend möglich. Wenn man in Bezug zu den drei Kreisen auf dieses Thema schaut, kommt man zu einer Lösung.

Das Bild von den drei Kreisen: die bedingungslose Liebe im ersten inneren Kreis, die Nichtdirektivität und der Respekt vor Lebensprozessen im zweiten Kreis und alles andere, was Schule ausmacht, im dritten Kreis – wie wirkt sich dieses Bild im konkreten Schulalltag aus?

Das Bild von den drei Kreisen hilft mir bei meiner Arbeit hier.

Diese Haltung der bedingungslosen Liebe ist für andere zu spüren, ganz egal, ob ich davon rede. Das ist eine Wahrheit, die man ausstrahlt. Und von dieser Haltung ausgehend kann man auch Grenzen setzen, denn dann trägt ja die Beziehung. Wenn ich sage „Stop“, kommt vielleicht auch Widerstand, aber das spürt sich ganz anders an, wenn das grundsätzliche Wohlwollen dahinter steht. Das Kind spürt dann, dieses Verhalten geht nicht, das lasse ich hier nicht zu, aber das hat nichts mit der Person zu tun.

Diese drei Kreise sind ein Idealbild, aber es ist wichtig, ein Ziel zu haben, um zu wissen, wo man hin will. Es ist wichtig, im Prozess zu sein und es ist überhaupt nicht notwendig, dass man da alles kann. Allein das Bemühen ist das Wichtigste. Es geht um das Bewusstsein. Deshalb finde ich so ein Bild immer wieder wichtig als Korrektiv. Wo stehe ich – und dann erinnere ich mich – und dann geht es wieder weiter. Nicht, dass wir perfekte Menschen sind – wir sind so gut und so heilig, damit kannst du mich jagen – es geht darum, im Prozess zu sein und im Bemühen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gerne.