Ein Interview mit Theo Feldner, dem pädagogischen Leiter der Lernwerkstatt. Von Maria Altmann-Haidegger.
Theo, welche Bedeutung haben die Kulturtechniken in der Lernwerkstatt?
Ich nehme an, eine andere als in den anderen Schulen, weil bei uns Kulturtechniken auch gelernt werden, so wie Schmieden oder Völkerballspielen oder Perlentiere basteln oder im Malort malen, also wir sehen es durchaus auch als authentisches Entwicklungsbedürfnis von Kindern.
Was bedeutet das, ein authentisches Entwicklungsbedürfnis?
Dass die Kinder einfach Rechnen können wollen, weil das Spaß macht oder dass sie Bücher lesen können wollen und natürlich ist es auch so, dass die Kulturtechniken dermaßen mit Schule besetzt sind in unserer Kultur – da ist Schule gleichzusetzen mit Kulturtechniken – außer vielleicht Musik und Zeichnen, was nicht so in die Lernkategorien fällt. Sonst ist das sehr mit Kulturgut wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch, Geographie, Geschichte, Biologie, Physik, Chemie, … belegt.
Wie ist das in der Lernwerkstatt?
Bei uns ist ein starker Fokus auf das ganzheitliche Lernen gelegt, das heißt, dass man Lernumgebungen herstellt sowohl für Motorik, für Kunst, für Forschung, für Naturerfahrung als auch für soziales Lernen, Theaterspielen, Rollenspiele, …. was halt das Menschsein so mit sich bringt, und in diesem Rahmen finden auch Kulturtechniken statt – so ist es eigentlich gedacht.
Da die Kulturtechniken in unserer Gesellschaft eine so große Wichtigkeit haben, werden gerade in diesen Fächern die Eltern am unentspanntesten, wenn das nicht so stattfindet, wie man sich das vorstellt. Wenn jetzt Kinder nicht Einrad fahren lernen, dann ist es eigentlich für die Eltern nicht so wichtig. Aber wenn sie nicht rechtschreiben können – das brauchen sie schon in der Welt. Ich finde es auch wichtig, dass sie rechtschreiben können und eine Grundausstattung in Mathematik und Englisch mitbekommen, etwas von Grammatik gehört haben, ….
Ich habe noch nie zu einem Kind gesagt: „Du warst schon lang nicht mehr im Bastelraum und hast ein Perlentier gefädelt“, aber schon oft: „Du warst schon lange nicht mehr im Mathematikbereich“ – das hat schon eine andere Wichtigkeit in mir. Es ist auch etwas, das den Kindern gut tut, wenn sie den Willen aufbringen, da etwas zu machen – sie werden zentrierter, ordnen sich – Mathematik hat eine sehr ordnende Kraft.
Oder dass sie sich zum Beispiel mit unseren Erasmus-Studenten auf Englisch verständigen können, das finde ich sehr schön, weil es für die Kinder auch Sinn macht, dass sie mit ihnen reden können. Sie schreiben auch gern Briefe, wir haben einen Briefkasten, oder Brieffreundschaften oder Listen, in die man sich eintragen kann – das ist gut, wenn sie das machen.
Prinzipiell denke ich, sind Kulturtechniken gleich zu bewerten wie andere Dinge auch. Sie haben auch entsprechende Bereiche in der Schule: es gibt eine vorbereitete Umgebung für Schreiben, Rechnen, Englisch. Es gibt Angebote in Biologie, Chemie, Physik. Es gibt Ausgänge in Museen. So wie es bei uns das Diavolo-Spielen gibt, mit Tricks und so – das im Moment gerade ein starkes Bedürfnis ist, da lernen sie sehr viel voneinander – wie bei den Kulturtechniken auch.
Sind mit der Vermittlung der Kulturtechniken auch Ängste verbunden?
Es ist eigentlich ganz normal bei uns. Was es nicht so normal macht, das sind die Ängste der Erwachsenen, der Fokus auf weiterführende Schulen, wo das Lernen reduziert wird auf einen Lehrstoff, von dem man viel nicht braucht im Leben. Für manche ist das auch total spannend, aber für viele ist es halt Stoff, den man auch machen muss. Da gibt es eben eine Anforderung von außen und dann muss man schauen, wie man damit umgeht.
Hier gibt es die vorbereitete Umgebung…
Ja, ich habe bei so vielen Kindern nicht mitbekommen, wie sie lesen gelernt haben. Auf einmal können sie es. Viele können es schon, wenn sie kommen. Bei manchen, die das nicht interessiert, kommt dann der gesellschaftliche Druck dazu, aber wir sind keine direktive Schule, wo alle etwas zur gleichen Zeit machen müssen. Irgendwann wird es für alle Kinder eine Notwendigkeit, schreiben zu können und dann lernen sie das auch. Andere sind bei der Schreibgruppe, weil es ihnen Spaß macht und dann machen sie zum Beispiel eine Schulzeitung – da gibt es eine Verbindlichkeit, das zu machen. Da schreibt man sich ein und dann findet das statt, mit unterschiedlichen Altersstufen.
Auch im Mathematikbereich gibt es verschiedene Materialien und eine Begleiterin oder einen Begleiter, die oder der hier ist. Da läuft auch viel über Beziehungen. Und das setzt Individualität voraus. Das wird nicht über einen Kamm geschoren. Wenn im Mathematikbereich zehn bis zwölf Kinder arbeiten, dann ist das schon viel. Sie wechseln auch dauernd. In Summe kann man dann schon sagen, dass an einem Tag ein Drittel der Schüler/innen mal da war, aber es ist auch so, dass manche ganz ganz selten kommen.
Gibt es beim Erlernen der Kulturtechniken einen Unterschied, ob Kinder in der Primaria oder in der Sekundaria sind?
Ja, in der Primaria (bei den sechs- bis zwölfjährigen Kindern) ist es eine spontane Interaktion mit der Umgebung. Die kommen mal vorbei und fragen: >>
„Was machst du da? Das interessiert mich. Das will ich auch machen!“ Und dann macht das Spaß.
In der Sekundaria (ab 12 Jahren) ist es viel geplanter. Die Jugendlichen nehmen sich was vor und das möchten sie dann machen. Vor allem, wenn es schon in Richtung Umstieg geht, wird es viel geplanter. Da ist die Frage: „Was brauche ich noch?“ – und dafür gibt es dann Arbeitsblätter oder so. Da ist es dann strukturierter.
Die jüngeren Kinder orientieren sich an den akustischen Signalen, zum Beispiel einer Trommel zur Teepause, dann wissen die Kinder, die Hälfte der Schulzeit ist nun vorbei. Dann gibt es die Geschichtenglocke, da wissen sie, nun ist es bald aus. Denn die jüngeren Kinder haben noch kein so differenziertes Zeitgefühl.
Manchmal ist etwas besonders gefragt, wie im Moment das Diavolo-Spielen, da haben sie dann gar keine Zeit für die Kulturtechniken und das ist auch voll okay.
In der Montessori-Pädagogik ist es ja so, dass die Kinder immer zuerst etwas praktisch ausführen, bevor sie es zu Papier bringen. Findet das in der LWS auch so statt?
Das ist auch sehr intelligent in dieser Reihenfolge. Mathematik geht vom Konkreten zum Abstrakten. Zuerst ist das Angreifen, dass man Operationen legen und verstehen kann, Muster sehen kann. Wie beim Goldenen Perlenmaterial – das ich sehr gut finde – wo der Einer eine Perle ist, der Zehner eine Stange von zehn Perlen, der Hunderter dann eine Platte und der Tausender ein Würfel aus tausend Perlen. Da bekommen sie ein Gefühl dazu. Und dann kommt vielleicht ein Abstraktionsschritt wie dass der Einer bei Montessori eine grüne Kugel ist, der Zehner eine gleich große Kugel in Blau, der Hunderter eine gleich große und schwere Kugel in Rot – so kommen immer weitere Abstraktionsstufen dazu. Und irgendwann rechnen sie dann auf dem Zettel.
Ich finde es nicht so gut, wenn Kinder gleich auf dem Papier zu rechnen beginnen, weil sie es ja auch nicht verstehen. Ich habe heute mit einer Schülerin wieder weitergeforscht, weil sie wissen wollte, wie man Brüche dividiert. Mich würde interessieren, wie viele Erwachsene das Dividieren von Brüchen wirklich verstehen!
Wenn das Interesse da ist: „Warum ist das so?“ Das ist wunderschön. Da muss man sich als Erwachsener auch auf den Weg machen. Viele hier wollen einfach wissen, warum das so ist. Das ist doch das Typische an Mathematik, dass man Strukturen erkennt, dass man logische Schritte aufbauen kann und nicht nur Spielregeln und Formeln hat, wie das geht. Viele Erwachsene können zum Beispiel nicht mehr mit einem dreistelligen Divisor dividieren, denn auf jedem Handy ist ein Taschenrechner. Früher war das eine Notwendigkeit und es ist auch eine coole Erfindung! Aber brauche ich es noch? Und halten sich Sachen, die ich nicht brauche? Das bezweifle ich, weil ich auch sehe, dass es nicht so ist. Ich sehe in meinem Alltag keine Erwachsenen, die schriftlich etwas rechnen – sie nehmen das Handy!
Ich finde es einfach fair, dass Kinder in der sensumotorischen und operativen Entwicklungsphase mit Materialien arbeiten können – denn die sind dazu da, dass sie Operationen verstehen können – und nicht sitzen und auf dem Papier rechnen müssen. Aber ich finde es auch voll cool, auf dem Papier zu rechnen, wenn ich das andere kann.
Was können die Jugendlichen, wenn sie die Lernwerkstatt verlassen?
Die Antwort wird nicht überraschen: Das ist sehr únterschiedlich. Denn auch in der öffentlichen Schule ist es sehr unterschiedlich – je nachdem, wie die Interessen liegen. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vermeiden, das man nicht machen möchte, ist hier größer als in der Regelschule. Aber wenn man in der Regelschule mal das Stigma hat, in Deutsch schlecht zu sein, bekommt man es auch so leicht nicht mehr los.
Aber viele Abgängerinnen und Abgänger sind ausreichend gerüstet für die Lehre und Berufsschule und die, die das wollen, auch für einen Umstieg in ein Gymnasium, eine HTL oder eine HLW. Und das erstaunt mich immer wieder. Denn innerhalb kürzester Zeit geht da unglaublich viel weiter. Und es ist viel auch vorher schon da.
In Mathematik ist es auch gut abzuschätzen: Ich sage den Schüler/innen, lernt die Grundrechnungsarten, den Zahlenraum von eins bis hundert, lernt das Einmaleins, lernt Bruchrechnen rauf und runter, dass ihr es versteht, das sind schon Schlüsselkompetenzen, weil das alle Grundrechnungsarten beinhaltet…. Textaufgaben, Schlussrechnungen, Prozentrechnungen…. Macht viele Gleichungen und beschäftigt euch mit der Geometrie. Wenn sie das können, haben sie keine großen Probleme.
Wenn die Schüler/innen nach dem Umstieg dann im ersten Semester auf Schulbesuch kommen, sagen sie oft: „Meine Mitschüler/innen können ja noch viel weniger als ich. Das hätte ich mir nie gedacht! – Die können das oft nicht und dann stören sie immer. – Das habe ich mir ganz anders vorgestellt.“
Wird nicht auch durch Bewegung wie Jonglieren und so das mathematische Verständnis geschult?
Durchaus. Im Bastelraum sitzen oft viele Kinder, die filzen, nähen und Perlentiere fädeln – dreidimensional! Das ist gelebte Geometrie! Oder manche Burschen, die viel mit dem Diavolo machen, ständige Bewegung, Höhe, … – mit Physik umgeben. Oder kochen, mit dem Einrad fahren, Baseball spielen, …. Bewegung ist das Beste, was man machen kann. Kinder kommen oft nach längerer Pause in den Mathe-Raum und dann wundere ich mich, woher die das können. Das passiert schon oft. Wenn ich durch das Schloss gehe und viele fröhliche Kinder sehe – das gefällt mir sehr.
Es ist bei uns so vielfältig, was man machen kann. Es gibt bei uns so viele Möglichkeiten, die vordergründig nichts mit Kulturtechniken zu tun haben und trotzdem schaffen unsere Kinder den Umstieg.
Wenn Jugendliche einen Umstieg planen, dann sind wir im Gespräch mit ihnen und dann werden auch mal Probe-Tests gemacht, damit sie das üben können. Nur wenn sie sich mal mit etwas beschäftigt haben, heißt das noch lange nicht, dass sie es können. Wir trainieren dann auch gezielt mit ihnen für eine Aufnahmeprüfung an einer weiterführenden Schule, wenn sie diesen Weg wählen.
Welche besonderen Stärken haben die Kinder der Lernwerkstatt?
Unsere Schüler/innen können sich normalerweise sehr gut artikulieren – das ist einfach durch ihre sozialen Fähigkeiten, die sie von hier mitnehmen – differenziert denken, andere einschätzen, Empathie – was sie halt brauchen für die Welt da draußen – aber das brauchen sie auch hier, wir sind ja auch da draußen. Viele Jugendliche verlassen diese Schule als reife Menschen.
Die Lernwerkstatt ist sicher eine Schule, in der durch die Freiheit, die es gibt, die Phantasie viel Raum hat. Wie wird sie hier gefördert?
Die Phantasie wird gefördert, indem sie nicht verhindert wird, würde ich sagen. Kinder – oder Menschen überhaupt – sind von sich aus sehr phantasievoll. Wenn ich die Rollenspiele beobachte – wir haben auch da eine vorbereitete Umgebung – sehe ich oft so komplexe Spiele, das kommt von innen heraus und aus der Aktion. Phantasie ist was Schnelles, das kommt aus dem Moment, aus den sich ändernden Momenten, ist immer wieder neu. Beim Diavolo-Spielen hat ein Schüler gesagt, das Coolste ist, wenn ich selber was erfinde, was nicht in den Büchern steht. In anderen Schulen sieht man manchmal an den Wänden Bilder, die alle das gleiche Thema haben – das ist in der Lernwerkstatt nie so. Hier sieht man so viele verschiedene Sachen. Bei uns gibt es nicht: Wir machen das jetzt alle.
Verhindert das die Phantasie?
Das kann vielleicht Phantasie verhindern, wenn man zu viel vorgibt.
Wenn man etwas machen muss und beurteilt wird, unter Druck arbeiten muss, das verhindert die Phantasie. Angst verhindert die Phantasie.
In der Mathematik ist auch sehr viel Phantasie drinnen. Wenn ich ein Mathematikseminar mache, kann ich es jedes Mal anders versprachlichen, dann entsteht wieder ein neuer Blickpunkt. Oder bei den Montessori-Materialien gibt es mehrere verschiedene Materialien und Interpretationen, was eine Division sein kann. Man könnte auch Mathematik als Theaterstück aufführen – ich habe da so große begehbare Materialien. Die Kinder entwickeln oft Phantasiestücke mit logischen und mathematischen Elementen.
Phantasie ist, wenn man sich frei ausdrücken und frei agieren kann. Ich habe manchmal das Bedürfnis nach Klängen und dann gehe ich einfach zum Klavier – das steht mir zur Verfügung. Den Kindern geht es genauso. Ich höre oft das Klavier. Geschichten zu erzählen ist auch sehr wichtig für die Phantasie, Werwolf spielen, Lesen…
Die Phantasie wird gefördert, indem Möglichkeiten des Auslebens gegeben werden.
Ich danke für das Gespräch!