Im Atelier „Nomade Moderne“ am Wiener Naschmarkt treffen wir – Sonia Höllerer und Ingrid Ratheiser von der Freigeistredaktion – Nuriel Molcho und seine Frau Audrey zum Gespräch. Unmittelbar neben dem NENI, dem erfolgreichen Unternehmen und Küchenkonzept der Familie Molcho, befindet sich das Hutmacheratelier von Nuriel und Audrey. NENI sind die Anfangsbuchstaben von Nuriel, Elior, Nadiv & Ilan, der vier Söhne von Küchenvirtuosin Haya Molcho, der Gattin des bekannten Pantomimen Samy Molcho. Familie und Freunde sind ein wesentlicher Teil ihres Lebens und prägen das NENI Konzept ebenso wie die israelischen, rumänischen und spanischen Wurzeln der Familie. NENI lebt vom gemeinsamen Teilen der Gerichte, von Leidenschaft und Lebensfreude, Familie Molcho nennt es kurz Balagan, sympathisches Chaos. Dieser inspirierende, erfrischende Spirit, der das NENI einzigartig macht, begegnet uns in Nuriel und Audrey, die das Atelier „Nomade Moderne“ gemeinsam führen, in seiner Ursprünglichkeit, Menschlichkeit und Herzlichkeit wieder.
Nuriel, Sie sind der älteste Sohn in der Molcho-Familie und für Ihre Vielseitigkeit bekannt. Holt man Informationen über Sie ein, begegnet man am häufigsten den Bezeichnungen: Gastronom, Geschäftsführer, Hutmacher, Kosmopolit, Familienmensch und Visionär. Wie würden Sie sich einem Menschen beschreiben, der Sie nicht kennt?
Nuriel: Ich würde sagen, dass ich ein Mensch bin, der den Mut hat, seiner Leidenschaft nachzugehen, ohne zu sehr nachzudenken, welche finanziellen outcomes etwas haben könnte. Ich bin kein Stratege, der vorausplant. Für mich zählt primär der Mut, die ersten Schritte eines Traumes, einer Vision, in Gemeinschaft zu gehen. Um dann auch in diesem Prozess das nötige Handwerk zu lernen und daraus MEHR zu machen.
Audrey, Sie betreiben mit Nuriel die „Nomade Moderne“, diese bekannte exklusive Hutmanufaktur hier am Naschmarkt. Was sind Ihre Erfahrungen und Beobachtungen, was zeichnet Nuriel aus?
Audrey: Ich habe, beziehungsweise lerne noch immer von Nuriels mutiger Lebenseinstellung. Er traut sich erste Schritte einfach zu tun. Ich selber bin eher die Strategische, ich wäge gerne Risiken ab. Tauchen dann zu viele mögliche Hindernisse, sprich Risiken auf, dann mache ich es nicht. Nuriel dagegen schmeißt sich da ganz rein. Wenn ein Problem auftaucht, dann ist seine Antwort, „I’ll deal with it“. Dann, aber nicht vorher. Das finde ich wirklich bewundernswert, deswegen kann er fünf Sachen gleichzeitig machen und alles mit Leidenschaft. Er fängt auch nur das an, wo ihn Leidenschaft antreibt. Alles demnach auch mit Erfolg.
Nuriel, viele Menschen in unserer Zeit haben diese gesunde Haltung, das Engagement, den Mut sich selbst zu verwirklichen, verloren. Welchen Einfluss hat Ihrer Meinung nach Bildung? Was braucht Bildung, damit Menschen so wie Sie ihre Talente und Potentiale entdecken und leben können?
Nuriel: Ich glaube, in den Schulsystemen werden die Talente und Begabungen der Kinder viel zu wenig gefördert. Idealerweise sollten Kinder heutzutage in allem gut sein, oder zumindest sogenannt gut sein, durchschnittlich sein. Gute Noten in allen Fächern zu haben, gilt als oberstes Bildungsziel schlechthin. Fakt ist, niemand ist in allen Sachen perfekt, jeder hat Bereiche, in denen er sich leichter tut, weil ein natürliches Talent dafür veranlagt ist. Ob das im mathematischen, strategischen Kontext zu finden ist, oder sportlicher Natur, oder Aktivität mit Kunst in jeglicher Form, da ist die Vielfalt immens groß. Das Problem sehe ich darin, dass Kinder zu wenig Lob und Anerkennung für die Sachen rückgemeldet bekommen, die wirklich gut gemacht werden. Gleichzeitig werden Bereiche, die bescheidener oder gar nicht gelingen, übermäßig kritisiert. Der Fokus liegt primär auf den sogenannten Fehlern. Dabei ist es doch einfach zu sagen, wo du nicht so gut bist, leave it, setze auf die Sachen, wo du gut bist, und werde darin immer besser. Ich sehe es als Fehler, dass in der Schule alles gemacht werden muss, vice versa in der Arbeitswelt. Man weiß, erfolgreiche Menschen sind Spezialisten in einem oder mehreren Feldern. Gefördert werden müssen immer die Talente und Begabungen, darin findet der Einzelne auch seine Freude und Leidenschaft. Nichts anderes kann auf Dauer motivieren. Es macht dann auch Spaß. Man kann so viel bewirken, wenn man diesen Gedanken, diese Sichtweise bewusst fokussiert.
Wesentlich ist für mich auch das frühe Erkennen der Talente und Neigungen. Das größte Ding bei uns – bei mir ist, ich sehe meine Arbeit nicht abgegrenzt als Arbeit. Freizeit und Arbeit fließen ineinander, eben weil es Spaß macht.
Wie hat sich Ihr persönlicher Werdegang in der Bildungslandschaft gestaltet?
Nuriel: Also, ich war Schüler der VIS (Vienna International School), eine internationale Schule, die einen Riesenvorteil im Sinne von Offenheit, Weltoffenheit und Sprachen bietet. Wir arbeiteten in der Schule viel im Projektkontext. Da ging es darum, sich mit einem selbstgewählten Thema auseinanderzusetzen, es sich zu erarbeiten und das Erlernte und Erforschte zur Thematik dann auch wiederzugeben, es vor den anderen Schülern zu präsentieren. Die Fähigkeit, vor anderen Menschen zu sprechen, Inhalte gut vermitteln zu können, war eine wichtige Säule der VIS. Tatsache war auch, dass wir, was den Notendurchschnitt angeht, anderen Schulen weit unterlegen waren. Die Philosophie der VIS war nicht im akademischen Kontext beheimatet und somit fiel der statistische Notenvergleich im Leistungskontext eher schlecht aus.
Audrey, lässt sich Erfolg an der zuteilgewordenen Bildung messen?
Audrey: Also, im konkreten Vergleich zu meiner Schule, die ihr standing im akademischen Feld hat, kenne ich weitaus mehr erfolgreiche Menschen, die ihre Träume leben, ihrer Leidenschaft folgen, aus Nuriels Schule. Im Gymnasium herrschten so ungeschriebene, unausgesprochene Gesetze wie „Bleib neutral und angepasst“, „Nicht gegen den Strom schwimmen“, „Ja nicht auffallen“. In der VIS passiert akademisch betrachtet wenig, doch die Abgänger sind voller kreativem Tatendrang und Mut. Ich bin echt fasziniert, wie unterschiedlich diese Schulen sind, wie unterschiedlich Schule gelebt und praktiziert werden kann.
Nuriel, wie ging Ihr Weg weiter?
Nuriel: Ich wollte nicht auf die Universität. Mein Traum war, um die Welt zu reisen und dabei Ideen zu finden, die funktionieren können. Zum Beispiel in Asien einen Essensimbiss zu finden, den es in Europa nicht gibt, oder in Amerika ein Fitnesskonzept zu entdecken, das in Australien als Idee einschlägt. Also meine Idee damals war reisen, Sachen, die mich faszinieren aufschreiben, beim Weiterreisen erkunden, gibt es diese Sachen woanders schon. Wenn nicht, kann ich vielleicht genau das an einem anderen Ort machen. Schon damals war diese start up Mentalität in mir. Das war mittlerweile vor zwanzig Jahren und damals haben junge Leute kein Business gestartet. Die Vision, gerade das zu tun, war selbst für mich nicht wirklich vorstellbar. Mein Vater meinte: „Die Idee ist super, nur brauchst du dazu ein Grundwissen von Business und Wirtschaft, von Managementsystemen. In England hast du viele Universitäten, wo du in drei Jahren durch bist und dann kannst du immer noch deine Weltreise machen. Dann kanalisiert sich auch deine Suche etwas. Auch die Erfahrung, für eine Zeitlang alleine zu leben, wird dich für diesen Weg sensibilisieren und dir letztendlich in deiner Entwicklung als Mensch dienen!“ Ich habe dann drei Jahre UNI gemacht. Anfangs war ich nicht völlig überzeugt davon, habe dann aber gemerkt, dass Leute um mich herum mit viel Management-Knowhow in ihrer Expertise ein Fundament haben, das es braucht. Da kamen dann die klare Entscheidung, das Feuer bzw. die Leidenschaft, sich dieses Wissen auch aneignen zu wollen. Ich habe früher nie gelesen, diese Entscheidung war der Initiator zum Lesen. An der UNI habe ich die Basics gelernt, nur, mir war klar, ich brauche tiefere Einblicke. So habe ich dann angefangen, Fachbücher zu lesen, eines nach dem anderen. Ich bin da von null auf hundert gestartet, von nie lesen auf jede mögliche Minute zu lesen. Es war mir klar, dieses Wissen hilft mir, meinen Traum zu erfüllen. Als ich dann meine Weltreise starten wollte, kam der Anruf meiner Mutter „Hey, Nuriel, ich habe einen Traum, ich würde gerne ein Restaurant eröffnen!“ Der Start war somit initiiert und ich konnte mein Erlerntes gleich auf Praxistauglichkeit testen. Wir haben dann beschlossen, ein Jahr quasi als Pilotprojekt zu starten. Das war vor zehn Jahren. NENI ist mittlerweile permanent gewachsen und weiterhin am Expandieren. Parallel dazu gab es noch andere Träume. Die Leidenschaft zum Hutmachen kam, das Fotografieren gesellte sich dazu. Meine Antwort darauf lautete, start it!
Braucht es für das reale Disponieren aller „Branchen“ ein komplexes Zeitmanagement?
Nuriel: Ich zitiere wieder meinen Vater, er sagte immer „Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich. Für Sachen, die dir Freude machen, die dir wichtig sind, nimmst du dir die Zeit, die du brauchst!“ Ja, ich stehe dann eben um sechs Uhr auf und mache bis abends – dazwischen ist so viel Zeit. Niemand kann mir sagen, er hat für etwas keine Zeit!
Zeit für Dankbarkeit ist ein fixer, wesentlicher Bestandteil für mich. Jeden Tag für drei Sachen Dankbarkeit auszusprechen, generiert enorm viel Response. Spüren, fühlen, meditieren sind sehr essentiell und wichtig. Wir sind alle Gewohnheitstiere, sobald es uns gut geht, beginnen wir Probleme zu kreieren. Den Fokus auf Bewusstsein zu haben, Dankbarkeit zu leben, zurückzugeben, wo man kann, ist absolut notwendig. Es ist absurd, das, was man gut kann, sprich das Knowhow dahinter, geheim zu halten. Giving back ist ganz wichtig. Eine Geschichte dazu: Ich war mit meinem Vater in der Stadt unterwegs, damals war ich ca. 12 Jahre alt. An einer Ecke tanzte ein junger streetperformer. Interessiert blieb ich stehen und sah begeistert zu. Am Ende der Vorstellung sagte ich meinem Vater, wie großartig dieser junge Mann das gemacht hat, wie toll ich das fand. Mein Vater sagte „Geh hin und sag ihm das, applaudiere ihm, sage ihm, wie gut dir das gefallen hat und danke ihm dafür!“
Audrey: Nuriel macht das gegenwärtig noch immer. So oft sich die Gelegenheit ergibt, verschönert er Menschen durch ehrliche Anerkennung deren Tag. Auch im Hut Shop leben wir das, Menschen wollen zusehen, wie es gemacht wird. Jede Geheimnistuerei ist da destruktiv. Von wegen, ihr dürft unsere secrets nicht erfahren… Offenheit und Teilen bringen so viel Mehrwert und Freude. Die Zeit der Einzelkämpfer ist definitiv vorbei.
Um diese höhere Gesetzmäßigkeit rund um Teilen und Geben & Nehmen zu erfassen, braucht es doch ein hohes Bewusstsein, oder?
Nuriel: Das sind meine Eltern. Sie haben uns diese Haltung schon immer vorgelebt.
Audrey: Für die Jungs war Teilen von klein auf selbstverständlich. Wenn Nuriel sich einen Gameboy gewünscht hat, dann hat Nuriel den Gameboy bekommen, aber Elior, sein Bruder, bekam die Spiele dazu. Sie konnten das gesamte Spiel erst erleben durch Teilen und Zusammenbringen.
Nuriel: Meinen Eltern war es immer wichtig, uns bewusst zu machen, dass wir miteinander mehr Spaß und mehr Freude erfahren können. So haben wir Brüder auch in einem Zimmer geschlafen. Wir sind ja alle vier innerhalb von ca. sieben Jahren geboren. Als ich dreizehn war, bekam ich dann mein eigenes Zimmer.
Audrey, wo sehen Sie den essentiellen Unterschied in der Herangehensweise, was Lernen und Leben im Bewusstseinsfeld der Familie Molcho betrifft?
Audrey: Das ist der positive Umgang mit Fehlern. Wer keine Fehler macht, hört auf zu lernen. Sie haften nicht an Fehlern an, schämen sich nicht dafür. Es wurde ihnen, was ein mögliches Scheitern oder Versagen angeht, keine Angst gemacht. Solche Erfahrungen waren nie mit dem Wert ihres Wesens als Mensch rückgekoppelt.
Nuriel: Ja – wir haben immer diesen konstruktiven Support genossen. Hatte ich aber vor etwas Angst, was es natürlich auch gab, musste ich es nicht tun. Man verliert so viel Energie, wenn man sich über Dinge ärgert, die man nicht beeinflussen kann.
Welche Botschaft möchten Sie letztendlich als Essenz in allen Kommunikationskanälen, die Sie persönlich nutzen, transportieren?
Nuriel: MEHRWERT! Allen Followers, Interessierten gegenüber hat man Verantwortung. Es braucht über das Teilen von schönen Bildern und Highlife-Momenten hinaus die Öffnung für dynamisches Prozessbewusstsein von Entwicklung. Leistung und Erfolg wie Unzulänglichkeit und Versagen bleiben ein komplexes Zusammenspiel. Gleich und Ungleich sind dasselbe, wenn man konstruktiv und positiv damit umgeht.
Das Motto unserer Familie lautet: Life is beautiful. Be part of it.
DANKE für eure Zeit und das bereichernde Gespräch!
