Der Reigen um Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung.
Betrachtungsweise einer Schulmitbegründerin einer burgenländischen Schule in freier Trägerschaft, die vor einem viertel Jahrhundert nach Begegnungen mit Rebeca und Mauricio Wild entstanden ist. Von Doris G. Gruber.
„Sie klettern auf Bäumen herum, laufen barfuß durch den Garten und machen das, was sie wollen!“, so die verkürzte Sichtweise mancher Beobachter von Primaria-SchülerInnen an Schulen in freier Trägerschaft. Da taucht zurecht die Frage auf, ob denn diese SchülerInnen etwas leisten, und vielmehr die Sorge, ob sie denn später im Leben leistungsfähig sein werden bzw. überhaupt leistungsfähige Mitglieder unserer Gesellschaft sein können.
Ich vermute, dass solche Aussagen von Menschen kommen, die noch keine Gelegenheit hatten, die pädagogischen Konzepte dieser Schulen kennenzulernen und nachzuvollziehen. Das Erklimmen von Bäumen erachte ich nämlich als große körperliche und koordinative Leistung, das Barfußgehen als notwendige sensorisch-emotionale Erfahrung, und im Machen-Was-Man-Will entwickelt sich die erstrebenswerte Fähigkeit, zu spüren, was man wirklich wirklich will, und diesem Gespür zu folgen.
Vertraute Denksysteme geben uns Sicherheit. Fremdes verunsichert. So auch bei neuen pädagogischen Ansätzen. Ausgegangen wird meist von Bekanntem, das wäre in diesem Fall unsere Leistungsgesellschaft als Ort unserer Sozialisierung und das österreichische klassische Bildungssystem, das die meisten von uns durchlebt haben. Der Leistungsbegriff wird hier hochgehalten, manchmal mehr, manchmal weniger, abhängig von den jeweiligen aktuellen Regierungen in Korrelation mit der entsprechenden politischen Heimat.
Jedenfalls kann jeder von uns, der durch eine österreichische Schule gegangen ist, einschätzen, was mit Leistung in der Schule gemeint ist. Angelehnt an den Leistungsbegriff in der Physik sprechen wir im pädagogischen Kontext allgemein von der Arbeit bzw. Anstrengung, die jemand aufwenden muss, um ein Ziel zu erreichen. Das wirft allerdings gleich zwei Fragen auf, nämlich erstens, welche Ziele mit dieser Anstrengung erreicht werden sollen, und zweitens, auf welche Gütemaßstäbe sich diese Ziele beziehen.
Das allgemeine Bildungsziel in Österreich basiert auf Werten wie Humanität, Solidarität, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit und Umweltbewusstsein. Auf deren Grundlage soll in der Schule ein Beitrag zur Entwicklung von Weltoffenheit und Mitverantwortung für die Weltgeschehnisse geleistet werden. Hochgeschrieben werden die Menschenrechte, die Demokratie, die Urteils- und Kritikfähigkeit und die Entscheidungs- und Handlungskompetenzen.
All diese Werte sind für die meisten Menschen erstrebenswert, egal in welcher Ecke der österreichischen Bildungslandschaft sie sich bewegen, so auch für mich. Aber wie stellt man sich vor, SchülerInnen an dieses allgemeine Bildungsziel heranzuführen? Gefolgt von der noch schwierigeren Frage, wie dann letztlich gemessen werden kann, ob die Erreichung einzelner Fragmente des allgemeinen Bildungszieles gelungen ist? Ich denke, dass in der Beantwortung dieser beiden Fragen die Unterschiede der jeweiligen pädagogischen Ansätze zu suchen und auch zu finden sind.
Am Elternabend der Storchennest-Schule ergibt sich eine Diskussion über den Leistungsbegriff. Ein Vater erzählt aufgebracht über den Umstand, dass seines Erachtens nach in erster Linie Phänomene als Leistung honoriert würden, die für andere sichtbar wären. Er finde diesen Umstand inakzeptabel und ungerecht. Es mache ihn wütend. Warum zählt es mehr, sich ein Haus zu erbauen, als Jahr für Jahr seine Arbeitsstunden im Büro abzuleisten? Da solle er plötzlich mehr geleistet haben als all die Jahre zuvor? Bloß weil andere das sehen könnten? Er vergleicht es auch mit der Projektarbeit von Kindern und Jugendlichen. Er findet, dass während der Projektarbeit immens viel geleistet würde, was nur selten wahrgenommen und gesehen würde. Aber dann am Ende bei der Präsentation komme das große Lob.
Dieser wütende Vater zeigt durch seine Beispiele den Unterschied von Gütemaßstäben auf. Ein Großteil der Bevölkerung wurde durch Erziehung und Schulbildung auf bestimmte Maßstäbe hin konditioniert: Reproduktion von vorgegebenem Lernstoff steht leider noch immer an
erster Stelle dieser Rangliste, wichtig scheint auch die Präsentation von Resultaten zu sein. Der Prozess – egal ob Lern- oder Schaffensprozess – bleibt im Hintergrund, wird kaum beachtet.
Menschliche Leistung bezieht sich demnach im schulischen Kontext der österreichischen Bildungslandschaft– ungeachtet der ursprünglichen Definition – lediglich auf das am Ende sichtbare, abrufbare und vermeintlich messbare Resultat, steht für Erreichung eines Zieles, ganz gleich, wie es erreicht wurde. Das, was als Leistung allgemein anerkannt wird, reduziert sich auf ein Teilfragment, wird erheblich geschmälert. Es wird nicht eingebettet in die Tatsache, dass man unzählige Kriterien dafür anwenden könnte. Für die Beschreibung humaner Leistung sollte auch der Prozess eine Rolle spielen dürfen und als Gütemaßstab legitimiert werden. Faktoren wie intrinsische Motivation, Begeisterung zeigen, Dranbleiben, Durchhalten, Kreativität, Freude haben, Teamarbeit und vieles mehr, fänden hier eine Berücksichtigung.
Im Austausch mit Pädagoginnen aus diversen Schulen merke ich, wie sich das Vokabular auf dem Bildungssektor im Laufe der Jahre verändert. Mit bester Absicht wird nicht mehr von abprüfbaren Fakten, Fertigkeiten und Fähigkeiten, sondern von Kompetenzen gesprochen, die SchülerInnen erwerben sollten. Besonders im Primarschulbereich wird bei der Leistungsfeststellung mit alternativen Beurteilungsmodellen wie Pensenbüchern oder verbalen Beurteilungen herumexperimentiert.
Das WORDING ändert sich, die Haltungen selbst nur sehr langsam. Die Ansicht, dass mit dem Überprüfen eines Resultates am Ende eines Lern- oder Schaffensprozesses Leistung von Schülerinnen abzubilden bzw. zu messen wäre, ebenfalls. Da SchülerInnen in unsren Schulen keine Tests schreiben, könnte dieser Ansicht nach die Leistung unserer SchülerInnen nicht gemessen werden.
Wenn man einerseits annimmt, dass Noten etwas über Leistungen von SchülerInnen aussagen, aber andererseits SchülerInnen in unseren Schulen weder getestet noch benotet werden, dann resultiert daraus, dass keine Aussage über Leistungen von diesen SchülerInnen getroffen werden kann. Da drängt sich erneut die Frage auf, ob denn unsere SchülerInnen etwa nichts leisten? Wir wissen es aus 30jähriger Erfahrung besser: Unsere SchülerInnen erbringen Leistungen in vielfältigen Lebensbereichen!! Um es auch für andere verständlich zu machen, müssen wir darauf bestehen, den verkürzten Leistungsbegriff wieder etwas weiter zu denken.
Wir bleiben dabei, unseren SchülerInnen keine Testblätter vorzulegen. Denn bei welchem Testergebnis könnte man die Freude und Begeisterung des Lernprozesses oder seine Intensität ablesen? Wo sind die Kriterien, die dem allgemeinen Bildungsziel näher kämen als bloße >> Zetteltestungen und Feststellung von wiedergekäutem Wissen.
Wir wollen in unsren Schulen den Kindern und Jugendlichen in ihrer Ganzheitlichkeit begegnen. Sie dürfen all ihre Fähigkeiten im kognitiven, sozial-emotionalen, sowie motorischen Bereich entfalten. Die übergeordneten Ziele sind Kompetenzen wie Selbstwert, Selbsteinschätzung, Lebensfreude, Entscheidungskompetenz, Problemlösungsfähigkeit, Empathie, Sozialkompetenz,……Weiters sehen wir die Ressourcen der SchülerInnen, aus denen sie schöpfen können, und nehmen diese mit hinein in die Betrachtung.
In der Wissenschaft hat man bereits vor mehr als hundert Jahren festgestellt, dass quantitative Messungen vor allem im humanen Wissenfeld nicht in jedem Kontext objektive Ergebnisse bringen. In unseren Schulen schreiben wir seitenlange Berichte über die Entwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen, die auf unseren Wahrnehmungen und Beobachtungen basieren und sich aufgrund von regelmäßigem Gesprächsaustausch mit den Eltern vervollständigen. Angelehnt an die wissenschaftlichen Forschungsmethoden könnten wir unsere Jahresberichte als qualitative Leistungsfeststellung bezeichnen.
Als ob das alles nicht schon kompliziert genug wäre, wird Leistung in Schulen nicht bloß festgestellt und gemessen, sondern auch noch bewertet, beurteilt. Und das bringt uns zur nächsten Herausforderung. In unseren freien Schulen beurteilen wir Kinder nicht. Was tatsächlich stimmt, ist, dass wir ihnen keine Noten unter irgendwelche Arbeiten schreiben oder gar Ziffern in einem Zeugnis auflisten. Aber das mit dem „Nicht-Bewerten“ ist im Grunde genommen gar nicht so einfach. Für mich stellt es einen Widerspruch zu unserem Verständnis von Lebensprozessen dar.
Ein Einzeller, die kleinste Lebenseinheit, muss bewerten, um zu überleben. Die Fähigkeit zu bewerten ist wichtiger Bestandteil des Lebensprozesses. Der von intrinsischer Motivation gesteuerte Organismus erkennt, differenziert und bewertet im Außen, was zu ihm passt und wovor er sich besser schützen sollte. Danach trifft er Entscheidungen.
Die pädagogischen Konzepte sämtlicher freien Schulen beinhalten als wesentliches Element den Respekt vor Lebensprozessen. Wenn also im Lebensprozess Bewertung unabdingbar vorkommt, ergibt sich daraus, dass Bewertung auch in unseren Konzepten Platz finden muss. Also doch bewerten, obwohl wir behaupten, nicht zu bewerten??
Aus dem Bild des Lebensprozesses lässt sich ableiten, dass Bewertung eine äußerst subjektive Komponente hat. Ein Organismus bestimmt selbst, was ihm guttut und was nicht. Nach einer subjektiven Bewertung trifft er seine Entscheidung selbst. Danach kann er feststellen, ob es eine gute Entscheidung war.
Weitergedacht heißt das, dass SchülerInnen anhand ihrer Resultate, ihrer Zufriedenheit, ihres Glücksgefühls oder auch ihrer Unzufriedenheit mit dem Ergebnis ihre Leistung selbst feststellen können. Ich spreche hier von Selbsteinschätzung, und auch diese Kompetenz entspringt ganz natürlich dem Lebensprozess. Es ist schön zu sehen, wenn Kinder und Jugendliche so bei sich sind, dass sie ihre Leistungen selbst gut einschätzen können. Mit einer guten Einschätzung meine ich einen Bereich, der zwischen geringem Zutrauen und einer maßlosen Selbstüberschätzung liegt.
Die Vorteile dieser Herangehensweise in unseren Schulen sind deutlich: die Entscheidungskompetenz, das Selbstvertrauen und die Selbsteinschätzung der Kinder und Jugendlichen werden gestärkt. Sie lernen aus Interesse, nicht für Noten, und können sich in ihren echten Interessen vertiefen. Da sie nicht in Konkurrenzsituationen gebracht werden, kann sich ihre Sozialkompetenz ganz anders entwickeln.
In der Begleitung von Kindern und Jugendlichen in unseren Schulen haben auch die Erwachsenen eine Funktion im Leistungsprozess. Die Erwachsenen dienen Kindern und Jugendlichen einerseits als Spiegel und andererseits als Vorbilder. Von klein auf genießen Kinder unsere Anwesenheit, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. An uns und unseren Reaktionen, an unserer Anteilnahme können sie sich selbst ablesen und erkennen, ihre Reflexionsfähigkeit langsam aber stetig aufbauen. In entsprechender Haltung sind wir anwesend. Oft reichen Blicke, Gestik oder Mimik. Wenn wir Worte verwenden, setzen wir sie behutsam ein: beschreibende Worte bei Kleinkindern, klare Worte von authentischen Erwachsenen bei älteren Kindern und Jugendlichen.
Den Erwachsenen als Vorbild/Lehrer für Nachkommen kennen wir nicht nur aus der Tierwelt. Auch in der Antike, im Mittelalter und bis heute haben Eltern, Philosophen, Meister als Lehrer eine Bedeutung als Orientierungspunkte im Leben. Wenn sich zwischen den „Lehrmeistern“ und den SchülerInnen gute Beziehungen entwickeln, dann bleiben sie meist ein Leben lang in guter Erinnerung.
Auf Basis einer guten starken Beziehung können Erwachsene, wenn es gewünscht wird, Bewertungen bzw. Urteile als Angebote mit dem Bewusstsein setzen, dass dies etwas Subjektives ist. „Ich sehe das so.“ „ Meine Meinung ist…“ Der Schüler bzw. die Schülerin kann bei so einem Angebot frei entscheiden, ob er /sie von diesem Bewertungsangebot Gebrauch machen will oder nicht, ob er es als Orientierungshilfe in Anspruch nehmen will.
Wir Erwachsenen wollen in unseren Schulen unsere subjektiven Einschätzungen, Feststellungen und Beobachtungen nicht auf eine objektive Ebene heben und so tun, als wären unsre Wahrnehmungen die Wahrheit. Das wäre für uns nicht legitim. Es würde einen unangenehmen Beigeschmack nach sich ziehen. Unsere SchülerInnen sollen ihrerseits die Möglichkeit haben, uns Erwachsene zu bewerten, so nach dem Motto: „Dieser Erwachsene ist für mich authentisch, vorbildlich…dem/der glaube ich etwas.“ Oder eben nicht. In einem Passus am Ende unserer Entwicklungsberichte für Kinder und Jugendliche ist der Aspekt der subjektiven Wahrnehmung der Lern- und EntwicklungsbegleiterInnen ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit vermerkt.
Abschließend möchte ich nochmals betonen, wie wichtig es mir erscheint, das allgemeine Bildungsziel samt seiner Grundwerte nicht aus den Augen zu verlieren. Die daraus ableitbaren Teilziele sind mannigfaltig, wenn sie unsere SchülerInnen in ihrer Ganzheitlichkeit erfassen wollen. In freien Schulen weigern wir uns, unsere SchülerInnen auf einige Teilleistungsstärken zu reduzieren. Denn sie erbringen in vielen Bereichen enorme Leistungen. Der verkürzte Leistungsbegriff kann wieder weiter gedacht werden, indem der gesamte Leistungsprozess der SchülerInnen gesehen wird. Wir überlassen die Feststellung der Leistung unseren SchülerInnen selbst, da wir diese Kompetenz als sehr wichtig erachten. Unsere Einschätzung, Wahrnehmung und Beobachtung bieten wir als Orientierung an, so sie gewünscht wird.