Sehnen wir uns nicht manchmal nach einem „Sie lebten glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer Tage“? ‚Glücklich und zufrieden‘ wäre das Gegenteil von ‚Streit und Kummer‘ oder von ‚unzufrieden und grantig‘ oder von … ?
Von Robin Mendes
Wir haben als Kinder ein Spiel gespielt, das wir das „Gegenteil-Spiel“ nannten. Es war ein reines Wortspiel, das sich anbot, wenn uns gerade langweilig war. Es führte oft zu viel Gelächter, manchmal aber auch zu erbitterten Diskussionen. Und geht ungefähr so: Einer stellt eine Frage: „Was ist das Gegenteil von Pfeffer?“, dann hagelte es aus allen Mündern (wir waren 5 Kinder) verschiedene Antworten. Wir diskutierten, erklärten, rechtfertigten und brachen meist irgendwann in Gelächter aus, weil irgendetwas richtig „passte“. Das Gegenteil von „Pfeffer“ wäre also beispielsweise „Salz“. Ist doch logisch, oder? Das Gegenteil von Salz hingegen vielleicht eher Zucker als Pfeffer … Leider kann ich mich nicht mehr an viele Wortpaare erinnern, die wir als Kinder so entdeckten. Aber ich kann mich an das Gelächter erinnern und an erstaunlich philosophische Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Dingen im Leben.
Ich schreibe diese Zeilen im Urlaub und frage mich, ob das Gegenteil vom Hamburger Hafen eine einsame Hütte in den Alpen oder ein einsamer Kahn im weiten Meer ist. Beide Gedanken haben etwas für sich.
Das Phänomen, dass das empfundene Gegenteil einer Sache häufig nicht reziprok ist und selten von mehr als ein paar Menschen einer Gruppe gleich benannt wird, finde ich immer noch sehr faszinierend und inspirierend.
Hast du schon mal überlegt, was das Gegenteil von „anders“ ist? Das Gegenteil von „normal“ wäre in unserem Sprachgebrauch häufig „anders“, aber das Gegenteil von „anders“ nicht unbedingt „normal“. Wenn ich mich anders fühle als andere, erlebe ich mich nicht zugehörig. Wenn ich mich körperlich anders fühle als vertraut, frage ich mich, ob ich krank bin. Anderssein ist eine Standortbeschreibung, sowohl innerhalb einer Gruppe oder einer Gesellschaft als auch für mein inneres Empfinden. Erlebe ich mich fremd oder dazugehörig? Erlebe ich mich anerkannt oder ausgegrenzt? Haben meine Bedürfnisse, Wünsche, Gedanken, Werte im Zusammenspiel mit anderen Raum und Bedeutung oder eben nicht? Oder suche ich eben das Andere, weil ich anders leben will, meine Kinder anders erziehen will. Fühle ich mich anders, weil ich mich nicht mit dem identifizieren kann, was ich durch die Gesellschaft als Norm erlebe. Dann gibt mir meine Andersartigkeit Tiefe und Bedeutung.
Aus einer gewissen Distanz schätzen wir Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit anderer. Sie inspirieren uns und bereichern unsere Perspektiven. Das tun sie aber nur, solange unser Blick auf uns selbst und unsere Zugehörigkeit nicht verunsichert werden. Diese Bereicherung findet nur statt, wenn wir selbst gut genug stehen, um das zu übernehmen, herein zu nehmen, was für uns passt und verarbeitbar ist.
In der Realität unseres Alltags und je näher und persönlicher die Andersartigkeit uns betrifft, desto eher bedroht und verunsichert sie uns. Heute Nachmittag kam mir beim Spazierengehen ein Paar entgegen, ca. 30 Jahre alt, er vehement gestikulierend, sie schweigend und stoisch ohne eine Miene zu verziehen. Die Sätze, die mir entgegenkamen, waren: „Du müsstest ja bloß! Ist ja nicht so schwierig, du tust immer …“
Immer wieder sitzen Paare verzweifelt oder wütend in meiner Praxis und sagen: „Wir sind wohl zu verschieden!“ oder „Sie müsste doch bloß …“, „Wenn er sehen würde, dass …“. Ähnlich klingt es, wenn Pädagog*innen oder Sozialarbeiter*innen der Überzeugung sind, dass die Eltern sicher anders handeln würden, wenn sie die Welt aus ihren Augen sehen würden.
Dort, wo wir der Ohnmacht begegnen und wir den anderen nicht dazu bewegen können, etwas zu tun, was uns naheliegend erscheint, begegnen wir auch der Grenze zwischen dir und mir. Es ist die Grenze, die daran sichtbar wird, dass ich etwas gänzlich anders sehe oder verstehe als du, oder (oft noch gewichtiger) wir etwas zwar ähnlich sehen, aber unsere eigenen individuellen Muster eine Lösung im Sinne dessen, was wir beide wollen, verhindert.
Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit sind ein häufiger Grund für Krisen, Konflikte und Brüche im Leben – sowohl im Familiären, als auch im Beruflichen. In Konflikten suchen wir Lösungen, die für alle stimmen. Wir suchen den gemeinsamen Nenner, oder aber wir versuchen den anderen von unserer Sicht auf die Dinge zu überzeugen. Wir sind überzeugt, dass die „richtigen“ Werte und Normen, beispielsweise Wertschätzung und Gelassenheit, zu einem Happy End führen würden, wären doch alle nur so wertschätzend und gelassen (hier können die Eigenschaftsworte nach eigenem Belieben ausgetauscht werden). Um Wirkung beim anderen zu erzielen, um ihr zu ihrem vermeintlichen Glück/oder aus ihrer Not zu verhelfen, erklären wir unsere Sichtweise, versuchen den anderen zu bewegen, aber „wer überzeugt wird, bleibt bei seiner Meinung“ und letztlich kann nur ich mich verändern (und das ist schon schwer genug). Häufig währen der vermeintliche Friede und die Sicherheit, dass wir das „doch eh gleich sehen“ nur kurz.
Das Ideal einer funktionierenden Partnerschaft, Familie oder auch eines Teams ist mit der Idee verbunden, dass wir eine Einheit bilden. Eine Einheit, die uns Sicherheit gibt, weil wir gemeinsame Werte vertreten. Eine Einheit, die uns auch eine Vertrautheit ermöglicht, damit wir wissen, worauf wir uns einstellen können. Eine Einheit, die uns Zugehörigkeit und Identität als Teil dieser Familie oder dieses Teams ermöglicht. Da ist Andersartigkeit schwierig.
Das macht auch Sinn. Zugehörigkeit ist eine der stärksten menschlichen Triebfedern. Wir alle brauchen Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen und wir kämpfen auch darum, wenn diese Zugehörigkeit bedroht ist. Das machen Kinder augenfälliger als Erwachsene, aber auch hier sind bedrohte Zugehörigkeit und persönliche Kränkung der häufigsten Auslöser von Gewalt und unangemessener Aggression. Es gibt auch kaum etwas, das verlässlicher zur psychischen Instabilität oder sogar Persönlichkeitsstörungen führt als fehlende oder unverlässliche Zugehörigkeit in unseren frühen Beziehungen. Die Andersartigkeit des Anderen und die daraus resultierende Unkontrollierbarkeit sind also ziemlich bedrohlich. Und oft genug reicht die Unfähigkeit mit der Andersartigkeit umzugehen aus, dass Beziehungen in die Brüche gehen oder unter einer lähmenden Harmoniedecke weitergelebt werden. Aber auch andersherum ist es nicht einfach. Wenn meine Andersartigkeit nicht anerkannt, meine Individualität, meine Bedürfnisse und Gedanken keinen Raum in der Beziehung haben, ist es auch ein guter Grund zu gehen. Sowohl mangelnde Anerkennung unserer Integrität und Individualität als auch fehlende Zughörigkeit rauben uns unsere Würde.
In diesem Dilemma hilft es, ein paar menschliche Realitäten anzuerkennen:
Wir alle sind anders – Der andere wird daher immer anders bleiben.
Wir alle brauchen eine Vertrautheit der eigenen Normalität (das kann auch eine alternative Normalität sein).
Ich kann niemand anderen verändern, das kann er*sie nur selbst. Ich kann nur mich verändern.
Wir alle brauchen Zugehörigkeit. Eine Zugehörigkeit, die Andersartigkeit einschließt und nicht ausschließt.
Glück und Zufriedenheit sind weder das Gegenteil von Konflikt und Dissonanz, noch hängen sie an unserem zwischenmenschlichen Einklang. Im fortwährenden Ringen um die eigene Integrität in Zusammenspiel mit dem Bedürfnis zu kooperieren gibt es kein Happy End. Es ist eine lebenslange Aufgabe und Herausforderung in allen persönlichen Beziehungen. Aber jede Beziehung gewinnt, wenn sie der Andersartigkeit und den damit unumgänglichen Herausforderungen Raum und Zeit widmet.
Die eine Person ist eher pfeffrig, die andere salzig oder süß. Und manchmal liegen darin wirkliche Gegensätze. Die Kunst im Leben und in Beziehungen ist es, zunehmende innere Stabilität seiner selbst zu entwickeln und gleichzeitig die Fähigkeit, Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern sie auch einzuladen.
Dazu braucht die Andersartigkeit eigentlich nicht viel. Wir müssen unsere Unterschiedlichkeit, unsere Gegensätzlichkeit einladen, sie explorieren und sie stehen lassen als das, was sie ist: anders. Unsere Unterschiedlichkeit lässt sich viel seltener als wir meinen auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Aber die Standortbestimmung in aller Offenheit ermöglicht jedem einzelnen von uns seinen oder ihren nächsten Schritt zu gehen.
Die Zutaten, die das ermöglichen, sind schlicht, fallen aber oft nicht leicht. Es reicht nämlich eine wohlmeinende Zugewandtheit mit einer zarten Neugier für das, was wir nicht verstehen und ein Anerkennen der letztlich absoluten Unverfügbarkeit des anderen. Jede Seele ist und bleibt für den anderen ein Geheimnis. Und das ist eigentlich besser als jedes Happy End.