Libertäre Pädagogik

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag in den meisten europäischen Staaten alles, was die Organisation und Struktur von Schulen sowie die dort zu lehrenden Inhalte betraf, ausschließlich in den Händen von Kirche und/oder Staat.

Von Rainer Wisiak

Erste Gegenentwürfe dazu kamen von Vertretern der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker werdenden Bewegung des Anarchismus, dem es darum ging, Herrschaft, Gewalt, Unfreiheit und Hierarchien in allen gesellschaftlichen Bereichen – und somit auch Schulen – abzubauen und aufzulösen. Das Ideal einer anarchistischen Gesellschaft prägte „bis in die Details die Pädagogik der damaligen anarchistischen Schulversuche: Wenig Frontalunterricht, selbständiges Erarbeiten von Stoffen in altersgemischten Schülergruppen, Öffnen der Schule nach außen mittels Exkursionen, Wanderungen, Unterricht im Freien sowie Kurse der Eltern, nicht zuletzt auch der Verzicht auf die traditionelle Bewertung.“ 

Gemeinsam war, vereinfacht gesagt, allen im Folgenden genannten Vertretern einer „libertären Pädagogik“ – für welche oft auch die Bezeichnung „anarchistische Pädagogik“ verwendet wird – eine „Erziehung ohne theologische, nationalistische, rassistische oder militaristische Gehalte“. Konflikte mit sowie starke Repressionen seitens der Kirchen und dem Staat waren somit vorprogrammiert.

Neben den bekanntesten libertären Pädagogen Francisco Ferrer und Leo Tolstoj – letzterer wird im anschließenden Kapitel ausführlicher porträtiert – gilt es im Kontext libertinärer Pädagogik auch auf die Namen Paul Robin, Sébastien Faure und Jean Wintsch zu verweisen, da sie zu Impulsgebern für viele weitere pädagogische Projekte wurden.

Paul Robin, 1837 in Toulon geboren, leitete von 1880 bis 1894 das etwa hundert Kilometer nördlich von Paris gelegene Waisenhaus in Cempuis unter dem Leitbild einer ganzheitlichen und – in Frankreich damals verbotenen  –  koedukativen Erziehung. Von einer sperrigen Schuladministration und in der Region mächtigen Kirche zum Rücktritt gezwungen, verließ er Cempuis, wurde Professor für Pädagogik an der neuen Universität in Brüssel und gründete dort die Zeitschrift „L´Education intégrale“.

Eine libertäre Pädagogik versuchte auch Sébastien Faure in seinem Waisenhaus „La Ruche“ („Der Bienenkorb“) in Rambouillet zwischen 1904 und 1917 umzusetzen: „Die Kinder des `Bienenkorbs´ leben in echter Koedukation, Musikinstrumente, Schulmaterial und Arbeitsgeräte gehören allen, eine demokratische Lebensform schließt die Mitsprache eines jeden gemäß seinem eigenen Entwicklungsstand ein und solidarisches Zusammenleben manifestiert sich in gemeinsamen Aktionen sowie dem Engagement für den Weiterbestand der eigenen Schule. Das Verhältnis zwischen Lehrern, `collaborateurs´, und den Kindern ist offen und nicht-hierarchisch.“ Dem anarchistischen Ideal entsprechend – Faure war Mitbegründer der Zeitschrift „Libertaire“ und Verfasser der vier Bände umfassenden „Encyclopédie anarchiste“  – baute er in Rambouillet eine „commune“ auf, wo jede/r gemäß seinen/ihren Fähigkeiten zur Koexistenz beitrug: die Kinder besuchten die Schule, arbeiteten aber auch im Haus, im Garten und auf dem Feld und erlernten einen Beruf.

Jean Wintsch, Herausgeber der Zeitschrift „La Libre Fédération“ und Begründer der von 1910 bis 1919 in Lausanne in der Schweiz bestehenden „Ecole Ferrer“, orientierte sich für seine „Ecole“ zum einen an Ferrers „Escuela Moderna“ in Barcelona,  zum anderen an den von Robin und Faure erprobten Verfahren zur Ausgestaltung des schulischen Alltags. Er setzte einen Schwerpunkt auf der Mitarbeit der Eltern und befand, dass Freude an der Schule und Motivation fürs Lernen am ehesten vermittelbar sind, wenn man den Unterricht außerhalb des Klassenzimmers, in der „Wirklichkeit“ abhält.      

Im Jahre 1898 traf sich in Paris ein Arbeitskreis namhafter europäischer Anarchisten – unter ihnen zum Beispiel Elisée Reclus, Jean Grave, Peter Kropotkin – um ein Bildungsprogramm zu gestalten, welches als erster Versuch der libertären Bewegung gewertet werden muss, einen gemeinsamen Standpunkt zu Fragen von Bildung und Erziehung zu erarbeiten sowie Perspektiven für eine Bildungspolitik des 20. Jahrhunderts zu entwerfen. 

„Sie entwickelten ein Schulprogramm mit dem Leitgedanken der Befreiung der Schule von Staat, Kirche und Autorität. In ihrer programmatischen Schrift `La Liberté par l´enseignement´ (`Freiheit durch Unterricht´) nennen sie Grundsätze, mit denen anarchistische Pädagogik in den kommenden Jahren realisiert werden soll. Bildung muss sein:

„a) allseitig, indem der Mensch individuell und gesellschaftlich seiner eigenen Vollendung entgegenstrebt …

b) rational, indem Erziehung auf Vernunft und auf den Prinzipien der gegenwärtigen Wissenschaft und nicht des Glaubens begründet ist … 

c) koedukativ, indem die Geschlechter im gemeinsamen öffentlichen und privaten Leben ständig zusammengeführt werden … 

d) freiheitlich, damit das Kind selbst seine Weltanschauung anhand der Tatsache aufbauen, unbehindert und unbeschwert von allen Hemmnissen der bürgerlichen Erziehung und Dogmatik leben kann.“ 

Wichtig war den Teilnehmern des Treffens – wie es später einmal Jean Grave in einem Parteiorgan formulierte – das Dogma der Autorität aus dem Unterricht zu beseitigen, ohne aber an dessen Stelle das Dogma der Anarchie zu stellen. Oberstes Ziel des Unterrichts müsse es sein, die Persönlichkeit des Individuums zu entfalten und den Kindern eine „eigene, selbständige Auffassung der Dinge zu ermöglichen.“ Dieses „Manifest“, im Anschluss an das Treffen in der Zeitschrift „Les Temps Nouveaux“ veröffentlicht, war zweifellos unfertig und eher ein Diskussionspapier, beflügelte aber zum einen die theoretische Auseinandersetzung mit libertärer Pädagogik, zum anderen Versuche zur Realisierung einer solchen – vor allem in Frankreich und Spanien. 

Gab es schon zu Lebzeiten Francisco Ferrers zahlreiche Nachfolgeschulen seiner „Escuela Moderna“ in Barcelona, so stieg deren Zahl, auch im Ausland, nach seinem gewaltsamen Tode (er wurde 1909 unter dem Vorwand, an einer Revolte beteiligt gewesen zu sein, hingerichtet) stetig an. In Spanien besuchten zur Zeit der 2. Republik (1931 – 1936) alleine in Katalonien 12.000 Schülerinnen und Schüler etwa hundert Ferrer-Schulen. Mit dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg sowie dem des Faschismus in fast allen Staaten Europas kam es zur Schließung all dieser innovativen Schulprojekte und auf dem europäischen Festland zu einem Stillstand libertinärer Pädagogik für Jahrzehnte. 

In den USA hingegen erhielt die Ferrer-Bewegung breite Resonanz. Von 1910 bis in die 1960er Jahre hinein entstanden aus der „Modern-School-Movement“-Bewegung heraus über 30 Schulen; die „Walden School“ in Berkeley, Kalifornien, besteht bis heute.  

Neben neuen Impulsen einer libertinären Pädagogik aus England (Herbert Read mit seinem Werk „Erziehung durch Kunst“, Alexander Sutherland und Ena Neills Schule „Summerhill“, Bertrand und Dora Russells „Beacon Hill School“) waren es dann in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem Impulse aus dem amerikanischen Raum, die von libertär denkenden Pädagoginnen und Pädagogen im deutschsprachigen Raum aufgenommen und/oder weiterentwickelt wurden. 

Zum einen inspirierten Paul Goodmans Schriften mit dem Ansatz einer „beiläufigen Erziehung“, die dann praktisch von George Dennison in seiner „First Street School“ in New York umgesetzt wurde, viele Gründungen von freien Schulen in unseren Breitengraden, zum anderen propagierten die Schriften Ivan Illichs („Entschulung der Gesellschaft“) und John Holts Bücher sowie seine Zeitschrift „Growing Without Schooling“ einen gänzlichen Richtungswechsel: die Abschaffung von Schulen als Orte institutionellen Lernens und Lehrens (Illich spricht von „Deschooling“, Holt von „Unschooling“) und die Schaffung alternativer Bildungs- und Lernnetzwerke an ihrer Stelle. In Deutschland verboten, gewinnt das „Freilernen“ als Form des „häuslichen Unterrichts“ in der Schweiz (nicht in allen Kantonen erlaubt) sowie in Österreich zunehmend an Bedeutung.

Zuletzt sei noch auf jenen roten Faden verwiesen, welcher von der libertären Pädagogik hin zur in den 1970er-Jahren in Deutschland entstandenen „Antipädagogik“ verläuft, deren bekannteste Vertreter Ekkehard von Braunmühl (Buch: „Antipädagogik“, 1975) und Hubertus von Schoenebeck („Unterstützen statt erziehen“) sind. 

Nun aber zurück zu den Anfängen einer libertären Pädagogik mit einem Portait von Leo Tolstoj. Den meisten Lesern ist Leo Tolstoj als Autor von Büchern wie „Krieg und Frieden“ (1868) oder „Anna Karenina“ (1878) bekannt, mit welchen er den russischen Gesellschaftsroman in die Weltliteratur einführte. Dass er neben seinen schiftstellerischen Tätigkeiten zeitlebens aber auch ein engagierter Pädagoge war und neben seiner Schule in Jasnaja Poljana 14 weitere „freie Schulen für Bauernkinder“ gegründet hat, ist weitgehend unbekannt geblieben. 


Leo (Lew Nikolajewitsch) Tolstoj (1828 – 1910)

Tolstoj wurde 1828 auf dem Gut Jásnaja Poljána im Gouvernement Tula in eine altadelige Familie hineingeboren. Während seiner Studienzeit (Orientalistik an der Universität von Kazan) entdeckte er Rousseaus Schriften, die ihn dazu anregten, den Bauern seines Gutes die Prinzipien der Kooperation zu lehren, damit sie den regelmäßigen Hungersnöten widerstehen könnten. Dabei bemerkte er sehr schnell, dass die erste Hilfe, die die Bauern brauchten, die Abschaffung der Leibeigenschaft war – diese forderte er auch öffentlich ein und führte sie auf seinem Grund schon durch, bevor sie in Russland 1861 offiziell abgeschafft wurde. Sein politisches Engagement verknüpfte er aufgrund dieser ersten Erfahrungen mit einem pädagogischen, wissend, dass eine Landverteilung unter ungebildeten Bauern wenig Sinn macht ohne die notwendigen Schulen dazu.

So gründete Tolstoj, der sein pädagogisches Programm teilweise an Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ anlehnte, 1859 die „Schule von Jásnaja Poljána“, die in fast allen ihren Festlegungen die Negation der damals (wie heute) bestehenden Schulen war: „In ihr sollte nicht Menschenmaterial nach den Erfordernissen der herrschenden Zustände geformt werden, sondern sie sollte Keimzelle sein der neuen, der freien Gesellschaft, in der nicht mehr Menschen den Zuständen, sondern die Zustände den Menschen dienen, oder – geändert werden.“ 

In den Jahren 1860 – 1861 unternahm Tolstoj eine ausgedehnte Reise, um Schulsysteme in Deutschland, England, Frankreich, Italien, Belgien und der Schweiz zu studieren. Bestärkt durch libertäre Pädagogen, an seinem Konzept einer freien Schule festzuhalten und dieses zu erweitern, aber schwer enttäuscht von den gängigen Erziehungsmethoden des Auslands und schockiert vom Kasernenzwang, der dort überall herrschte, kehrte er nach Russland zurück.

So notierte er am 17. Juli 1860 nach dem Besuch in einer sächsischen Schule in sein Tagebuch: „Es war fürchterlich. Gebete für den König, Peitschenstrafen, der ganze Unterricht ein Auswendiglernen, verschüchterte, geistig verkrüppelte Kinder.“ 

In diesen „wie Gefängnisse gebauten Schulen“ zwinge man die Kinder, „täglich sechs Stunden lang während der schönsten Zeit des Lebens still hinter ihrem Buch zu sitzen und einen Tag lang an einer Sache zu lernen, die sie in einer halben Stunde lernen könnten, während das Hauptvergnügen und das stärkste Bedürfnis des kindlichen Alters, das Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit, unbefriedigt bleibt.“ 

Wohl auch aufgrund dieser Überlegungen fand der Unterricht in der Schule von Jásnaja Poljána nur im Winter statt – im Sommer halfen die Bauernkinder bei den Feldarbeiten. Etwa dreißig Kinder besuchten die Schule regelmäßig, dazu kamen drei bis vier Bauern, die zeitweise am Unterricht teilnahmen.

Die Schule von Jánaja Poljána

Tolstojs Pädagogik setzte ganz auf Zwangsfreiheit, Flexibilität und Respekt vor der Würde der Kinder. Strafen wurden abgeschafft. In seiner Schule gab es keinen festen Stundenplan, keine festen Schulzeiten und keine Zensuren:

„Ich habe fast nie gesehen, dass die Kinder auf dem Weg zur Schule spielen, außer etwa die allerkleinsten. Keiner trägt etwas bei sich – weder Bücher noch Hefte. Häusliche Aufgaben gibt es bei uns nicht. Aber sie haben nicht allein nichts in den Händen, sie brauchen auch nichts im Kopfe zu haben. An keine Aufgabe, an nichts, was er gestern getan hat, braucht sich der Schüler heute noch zu erinnern. Ihn quält nicht der Gedanke an die bevorstehende Lektion. Er bringt nur sich selber, seine empfängliche Natur und die Überzeugung mit, dass es heute in der Schule genauso lustig sein wird, wie gestern. Nie tadelt man einen Schüler, wenn er sich verspätet, es kommen auch gar keine Verspätungen vor.“ 

Was bis heute an Tolstojs Buch „Die Schule von Jásnala Poljána“ fasziniert, ist: Es handelt sich um einen Erfahrungsbericht, in welchem nichts beschönigt wird. Tolstoj erzählt darin von seinen Fehlern und bekundet immer wieder offen und ehrlich, wie oft er sich irrte, wenn er einem Plan oder Konzept folgte, und wie richtig er damit lag, wenn er nur die kindliche Entwicklung genau beobachtete: 

„Die Schule entwickelt sich von Anfang an völlig frei, aus Prinzipien, die Lehrer und Schüler in sie hineintragen.“ Die Anfänge scheinen allerdings recht turbulent gewesen zu sein, denn „es ließ sich keine Einteilung, weder in Klassen noch Gegenständen, weder in Unterrichtsstunden noch Ruhephasen finden, alles floss wie von selbst in eins zusammen. … Jetzt aber gibt es in der ersten Klasse schon Schüler, die selbst danach verlangen, einem Stundenplan zu folgen, die unzufrieden sind, wenn sie während der Lektion gestört werden. … Meiner Ansicht nach ist diese äußere Unordnung nützlich und unersetzlich, so seltsam und unbequem sie für den Lehrer auch zu sein scheint … Erstens ist und diese Unordnung, oder vielmehr diese  f r e i e   O r d n u n g , nur darum so schrecklich, weil wir an ganz andere Verhältnisse gewöhnt sind, in denen man uns erzogen hat. Und zweitens wird in diesem, wie vielen ähnlichen Fällen, die Gewalt nur aus Übereilung und Mangel an Achtung vor der menschlichen Natur angewandt. Es scheint uns, dass die Unordnung wächst, immer größer und größer wird und keine Grenzen mehr kennt – es scheint kein anderes Mittel zu geben, um ihr ein Ende zu machen, als die Anwendung von Gewalt –, und doch braucht man nur ein wenig zu warten, und die Unordnung (oder die Lebhaftigkeit) würde sich legen und in eine viel bessere und dauerhaftere Ordnung übergehen als die, welche wir erfinden. Denn die Schüler haben dieselben Bedürfnisse wie wir, und sie denken nach denselben Regeln wie wir; sie wollen alle lernen, und deshalb gehen sie auch bloß in die Schule.“ 

So ergab sich in Jásnaja Poljána langsam folgender Rhythmus: „Die Lehrer führen Tagebücher, die sie sonntags einander mitteilen, um danach den Lehrplan für die kommende Woche auszuarbeiten. Diese Pläne werden aber in keiner Woche ganz ausgeführt und werden jederzeit nach den Wünschen der Schüler abgeändert. Vormittags finden Lektionen über Lesen, Rechnen oder Grammatik statt, aber manches Mal sind Lehrer und Schüler so begeistert, dass die Lektion statt einer Stunde drei Stunden dauert.“  Und sollte der Unterricht nicht spannend genug oder mangelhaft sein, hätten die Schüler, so Tolstoj, „auch die Freiheit, plötzlich vom Unterrichte wegzulaufen, als ein Mittel dafür, den Lehrer vor den äußersten und gröbsten Fehlern zu bewahren.“ 

Nach einer Mittagspause kamen die Kinder am späteren Nachmittag wieder in ihre Schule und Tolstoj konstantierte für diese Zeit „eine besondere Abneigung gegen die Mathematik und die Analyse und eine große Vorliebe für das Singen, Lesen und Erzählen.“ Die Kinder blieben dann aus eigenem Interesse „bis 20 oder 21 Uhr, wenn nicht etwa die älteren Knaben dann in der Tischlerwerkstätte noch etwas aufhält.“ 

Tolstoj beobachtete genau: Wann das Interesse an Geografie oder Geschichte auftauchte oder welche Texte Kinder gerne lasen. Jahrelang arbeitete er an einer Fibel, seinem großen Traum, der darin bestand, dass mit einem guten Lesebuch für wenig Geld „Generationen russischer Kinder, angefangen bei den Zarenkindern bis hin zu den Bauernkindern, also alle, lesen lernen und ihre ersten dichterischen Eindrücke gewinnen sollen.“ Dieser Traum erfüllte sich, denn sein im Jahre 1875 veröffentlichtes und in zweiter Fassung verbessertes „ABC-Buch“ wurde in Russland in eineinhalb Millionen Exemplaren verbreitet.  

Als theoretisches Organ seiner Schule >> gab Tolstoj die Zeitschrift „Jásnaja Poljána“ heraus, in welcher pädagogische Aufsätze wie „Gedanken über Volksbildung“ oder „Erziehung und Bildung“ erschienen. Bis 1862 gründete Tolstoj in seiner Eigenschaft als Friedensrichter im Gouvernement Tula 14 weitere „freie Schulen für Bauernkinder” nach dem Vorbild der Schule von Jásnaja Poljána. Doch die Schulen, wie die Schriften, oder die Kontakte ins Ausland, beispielsweise zum im Exil in London lebenden Freidenker Alexander Herzen (Herausgeber der antizaristischen Zeitschrift „Die Glocke“) waren vielen suspekt, brachten ihm 1862 eine Hausdurchsuchung ein und führten zur Schließung der Schulen und zum Verbot der Zeitschrift durch die Zensurbehörde. Erst 1869 konnten die Schulen ihren Unterricht wieder aufnehmen – bis zu ihrer endgültigen Schließung im Jahre 1875. 

„Ich will ihn nicht zum 

Märtyrer machen!“ 

In den Jahren danach wurden Tolstojs Schriften und Bücher immer kritischer, wenn nicht gar Kampfansagen gegen Kirche und Staat. Wegen seines Romanes “Auferstehung” wurde er 1901 von der russisch-orthodoxen Kirche exkommuniziert und mit Schriften wie “Warum hungern russische Bauern?” (1892) legte er sich direkt mit den herrschenden und besitzenden Schichten an, damals aber schon zu berühmt, als dass man ihn hätte mundtot machen können. Dem Plan des damaligen Innenministers, Tolstoj in einem Kloster in Susdal zu internieren, widersetzte sich Zar Alexander III mit den Worten: „Ich bitte euch, Tolstoj nicht anzurühren. Ich will ihn nicht zum Märtyrer machen und damit die allgemeine Unzufriedenheit auf mich ziehen.“ 

Bis zu seinem Lebensende war Tolstoj schriftstellerisch aktiv, im Austausch mit vielen anderen Freidenkern – in seinem letzten Lebensjahr noch mit Gandhi, den er zu einem gewaltlosen, aber aktiven Widerstand ermutigte (Gandhi wird eine mit seinen Anhängern in Transvaal gegründete Siedlung später „Tolstoi“ benennen).

Die letzten Lebensjahre Tolstojs waren geprägt von staatlichen Willkürmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen und familiären Konflikten. Zerstritten mit seiner Frau Sóphia Andréjevna und vielen seiner 13 mit ihr gemeinsamen Kindern – meist ging es um die Rechte seiner Bücher, die er dem russischen Volk vermachen wollte – brach er am 28. Oktober 1910 mit seinem Arzt und Freund Dr. Makovicky und seiner Tochter Sáscha zu einer letzten, spektakulären Reise Richtung Süden auf, erkrankte aber auf der Reise an einer Lungenentzündung, der er am 7. November 1910 erlag.

„Seine sterblichen Überreste wurden nach Jásnaja Poljána übergeführt. … Von den Bauern seines eigenen Dorfs wurde er zu seiner letzten Ruhestätte gefahren und, seinem Wunsch entsprechend, an jener Stelle im Wald beigesetzt, wo sein älterer Bruder Nikoláj – als Zehnjähriger – einst den grünen Zweig vergraben haben soll, auf dem das Geheimnis des Glücks für alle aufgeschrieben war.“ 

Tolstojs Verdienst war es, dass er eine 

Schule entworfen hat, die den Fokus nicht auf Selektion legte, sondern, indem sie (im Gegensatz zu fast allen anderen seiner Zeit) gratis war, um soziale Gleichstellung bemüht war. Er betonte, dass es keine allgemein richtigen oder falschen Methoden des Lehrens und Lernens gäbe, sondern sich diese im Prozess des Lehrens und Lernens immer wieder selbst neu bilden und ändern müssten. Er lebte ein neues Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern vor und fügte hinzu, dass selbst seine Schule noch ein Stück weit vom Ideal entfernt sei:

„Trotz der in der Schule herrschenden Freiheit ist das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler außerhalb der Schule, in der freien Luft, ein anderes. Es herrscht mehr Freiheit, mehr Natürlichkeit und mehr Vertrauen, mit einem Wort, die Beziehungen sind so, wie sie uns als ein Ideal vorschweben, nach dem die Schule streben soll.“ 

Wie nahe Tolstoj diesem Ideal in Jásnaja Poljána war, davon berichtet Wassilij Morosow in seinen „Erinnerungen eines Schülers“:

„Wir umringten Lew Nikolajewitsch, packten ihn hinten und vorne, versuchten, ihm ein Bein zu stellen, ihn mit Schneebällen zu bewerfen, wir stürzten uns auf ihn, kletterten ihm auf den Rücken und wollten ihn umwerfen. Doch er war höchstens noch entschlossener als wir und trug uns wie ein starker Ochse auf dem Rücken. Nach einer Weile ließ er sich dann aus Erschöpfung oder eher aus reinem Vergnügen doch in den Schnee fallen. Dann war unsere Ekstase unbeschreiblich! Wir begannen sofort, ihn mit Schnee zuzudecken und uns in einem Haufen auf ihn zu werfen. …

Die Schule machte uns Spaß und wir arbeiteten begierig mit. Doch Lew Nikolajewitsch arbeitete noch begieriger als wir. Er war so in seine Arbeit mit uns vertieft, dass er oft das Mittagessen vergaß. In der Schule war seine Erscheinung stets seriös. Er verlangte von uns Sauberkeit, ordentlichen Umgang mit den Schulsachen und Wahrhaftigkeit. … Er bestrafte nie jemanden wegen irgendwelcher Streiche, wegen Ungehorsams oder Müßigkeit; und wenn wir zu laut wurden, sagte er nur: `Etwas ruhiger, bitte!´ …

Durch solche Vergnügungen und Fröhlichkeit und durch die raschen Fortschritte im Lernen kamen wir Lew Nikolajewitsch so nahe wie der Faden des Flickschusters dem Wachs. … Wir verbrachten den Tag in der Schule und vertrieben uns den Abend mit Spielen, wobei wir bis spät in die Nacht auf seinem Balkon saßen. Er erzählte uns Geschichten aus dem Krieg … und wie ihn einmal auf der Jagd ein Bär biss, und er zeigte uns die Narbe an seinem Auge. Unsere Gespräche zogen sich endlos hin. … Er erzählte uns Geschichten, furchtbar oder lustig, sang Lieder und passte dabei den Text uns an. … Er war ganz allgemein ein großer Spaßvogel und ließ keine Gelegenheit aus, kräftig zu lachen. …

Fünfzig Jahre sind seither vergangen. Ich bin bereits ein alter Mann. Doch meine Erinnerungen an Lew Nikolajewitschs Schule und an ihn selbst sind immer noch deutlich vor mir. Sie machen mir immer wieder Mut, vor allem, wenn ich in Schwierigkeiten stecke. … Die Liebe Lew Nikolajewitschs, die damals entflammte, brennt immer noch strahlend in meiner Seele und erhellt mein ganzes Leben; und die Erinnerung an jene strahlenden und glücklichen Tage habe ich nie verloren und werde ich nie verlieren.“ 

In Europa sind Tolstojs Gedanken hinsichtlich einer anderen Form von Schule nur marginal oder gar nicht bekannt geworden, flossen in den USA aber stark in die „Free-School-Bewegung“ ein:

„Auf unbürokratische Weise entstehen seit den 60er Jahren überall in den USA laufend kleine Straßenschulen, oft inmitten der Ghettos und Slums der großen Städte. Die Lehrer und Eltern, die solche `Schulen´ betreiben, sind nicht der Meinung, dass Uniformität, Anonymität und Bürokratie die optimale Atmosphäre zum Lernen schaffen, sondern die persönliche Zuwendung und das, was Tolstoj `freie Ordnung´ nannte.“ 

George Dennison, der Gründer einer der bekanntesten dieser Schulen – der „First Street School“ in New York – betonte immer wieder, wie wichtig Tolstojs Schrift „Die Schule von Jásnaja Poljána“ für ihn wie auch sein Schulprojekt war. Sein Buch „Gestaltpädagogik in Aktion. Ein Praxisbericht“, in welchem er seine Jahre in der „First Street School“ beschreibt, endet mit dem Satz:

„Vielleicht sollte das Wahrzeichen unserer amerikanischen Grundschulen ein Medaillon ohne Worte sein, eine Darstellung Tolstojs mit den Kindern auf seinem Rücken.“