Dieser Artikel ist jenem altgriechischen Sophisten gewidmet, der Widerstand zum Prinzip seiner „Hebammenkunst“ gemacht hat; dessen philosophische Praxis darin bestand, im Dialog zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, indem er die Frage, die mitunter sehr unbequeme Frage, als Präzisionswaffe des Widerstands einsetzte: Sokrates. Der es als zweckmäßiger und im Sinne einer gewissen Dialektik vernünftiger empfand, in ethischen Dingen lieber keine fertigen Lösungen zu präsentieren. Aber – ist denn Widerstand eine Frage der Ethik? Vielleicht ihre grundlegendste.
Von Jost-Alexander Binder
Der „Masse“ ist Widerstand suspekt. Das verwundert nicht, da sie selbst eben keinen Widerstand leistet. Andererseits ist die Masse selbst suspekt, verhält sie sich doch oft so vollkommen anders, als das Individuum. Dass die Gruppe oft zu Dingen fähig ist, die der/die Einzelne als Teil davon niemals in Erwägung zöge, ist die bittere Erkenntnis, die Sokrates als letzte Botschaft hinterlässt, indem er den Schierlingsbecher trinkt. Sie lautet: Macht braucht Kontrolle. Auch wenn sie demokratisch legitimiert ist. „Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben“, heißt es bei Bertrand Russell. Fallibilismus nennt man es in der Wissenschaftstheorie.
Wie suspekt muss es dann erst anmuten, wenn nun die Masse selbst Widerstand leistet? Je nach Lage der Machtverhältnisse würde man hier vielleicht Revolution diagnostizieren. Oder aber „nur“ einen Aufstand.
Was also ist Widerstand? Jemand (eine Person, eine Gruppe, eine Bewegung…) versucht etwas zu verhindern, was eine vermeintlich mächtigere Person/Gruppe/Bewegung… realisieren möchte und wird, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird. Die Beweggründe ersterer können dabei sehr unterschiedlich sein. Widerstand kann in Überzeugungen oder Altruismus gründen, der Angst vor erwarteten Nachteilen, oder der Hoffnung auf zu erreichende Vorteile geschuldet sein, oder einfach nur einem mehr oder weniger begründeten Misstrauen.
Wer leistet eigentlich Widerstand und warum? Und erleben jene, die Widerstand leisten, diesen überhaupt als solchen? Oder ist Widerstand manchmal vielleicht sogar nur aus Sicht des „Empfängers“ als solcher erkennbar? Jemand, der etwas um- oder durchsetzen möchte, fühlt sich durch Widerstand vermutlich eingeschränkt oder belästigt, bestenfalls „nur“ genervt, womöglich aber auch persönlich angegriffen. Widerstand scheint also keineswegs so trivial, wie er sich vielleicht darstellt, wenn er in einem bestimmten Kontext zutage tritt. Widerstand kennt sehr unterschiedliche Niveaus und Intensitäten. Hängt unser eigenes Verhältnis zum Widerstand vielleicht, wie bei den meisten ethischen Fragen, u.a. von der physischen oder geistigen Distanz ab, die wir dazu empfinden?
Organisationen kennen oder fürchten den Widerstand, welchen jegliche Veränderung, sei es ein Strukturwandel, ein neues Projekt, oder eine noch unausgegorene neue Idee, auslösen können. Denn „Jede neue Idee, die man vorbringt, muss auf Widerstand stoßen. Der Widerstand beweist übrigens nicht, dass die Idee richtig ist.“ (André Gide) So wie in Organisationen bedeutet es auch in Familien eine beachtliche Herausforderung, mit Widerstand oder, wie man es dort nennt, „Ungehorsam“, umzugehen. Uns Eltern ist ein gewisses Maß an „Ungehorsam“ ein vertrauter Aspekt der Beziehung zu unseren Kindern. Doch so lästig sich der kindliche „Ungehorsam“ auch situativ anfühlt, so spüren wir doch seine nachhaltige Bedeutung. „Interessanterweise ist Ungehorsam oft der erste Schritt eines Kindes in Richtung persönliche Integrität und Verantwortung.“ (Jesper Juul) Außerdem war jede:r mal Kind. Nach welchen Gesichtspunkten wird Widerstand/Ungehorsam in Familien oder Unternehmen bzw. Organisationen gehandhabt? Gibt es hier eine Empfehlung?
Dort, wo Widerstand seine gesellschaftlich größte Wucht entfalten kann, in politischen Fragen, ist Widerstand (idealerweise!) institutionalisiert: als parlamentarische oder auch außerhalb derselben verortete Opposition. Ihre Existenzberechtigung ist – unabhängig von Größe oder Botschaft – eines der wesentlichen und absolut unverhandelbaren Qualitätsmerkmale einer funktionierenden Demokratie. Nun sind allerdings die allerwenigsten Organisationen und keineswegs alle Familien demokratisch organisiert. Was seinen Grund hat. Würde die Familie das Ernährungsverhalten der womöglich in jeder Hinsicht stimmenstärkeren Kinder einem demokratischen Prozess überlassen, könnte sich das nachteilig auf die (Zahn)Gesundheit auswirken. Aber wessen Widerstand ist es denn nun, den wir meinen? Jener der Eltern, denen der Widerstand gegen das Nasch-Regime beträchtliche Energieressourcen abverlangt, oder der Widerstand der Kinder gegen das Ernährungsdiktat der Eltern? Und sind es nicht gerade die Minderheitenrechte, die eine Demokratie auszeichnen…? Aber den hier zugrunde gelegten, vielleicht auch hinkenden Vergleich ausführlicher zu beleuchten, würde wohl den Rahmen sprengen.
Relativ offensichtlich scheint, dass so unterschiedliche wie sozialsensible Systeme wie Familien oder Organisationen typischerweise ihr sehr spezifisches, höchst individuelles Geflecht aus autoritären und partizipativeren Führungsstrukturen entwickeln, die meist umso stabiler (verlässlicher) sind, je beweglicher (lernbereiter) sie bleiben. Wo diese Ansprüche oder Interessen den Betroffenen als aus ihrer Sicht gefährdet erscheinen, wäre alles andere als eine Nicht-Reaktion irritierend. Äußert sich die Reaktion als Widerstand, so waren möglicherweise bereits vorausgegangene, dezentere Hinweise wirkungslos, oder die Gefährdung ist bereits (zu) weit fortgeschritten oder akut. Brecht formuliert hier eine gesellschaftliche Verantwortung jedes Einzelnen, indem er sehr kompromisslos fordert: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Aber so plausibel das klingt – ist nicht gerade dort, wo jemand etwas zur Pflicht erhebt – und sei es die Pflicht zum Widerstand – Widerstand vorprogrammiert? Wodurch ist sichergestellt, dass jene, die sich von Brecht angesprochen fühlen, selbst ein verantwortungsvolles Empfinden dafür haben, was Recht und was Unrecht ist? Wovon hängt es ab, ob jemand dieser Pflicht überhaupt nachkommt, oder eben nicht? Und schließlich, da es offensichtlich einen Zustand gibt, wo Widerstand keine Pflicht, sondern ein Recht ist: wann (spätestens) ist dieses Recht in Anspruch zu nehmen? Wann ist es womöglich schon zu spät?
Ihr Widerstand im Dienste der Gesellschaft hat manche dieser wahren Held:innen der Menschheit ihren Erfolg nicht mehr erleben lassen: die Geschwister Scholl, Dietrich Bonhoeffer, Desmond Tutu, Oskar Romero, Anna Politkowskaja, Martin Luther King, Ken Saro-Wiwa, Rosa Luxemburg seien hier nur stellvertretend genannt; für die Abertausenden, die genannt werden müssten, die den Mut hatten, sich einem Unrecht zu widersetzen – gewaltfrei versteht sich. Haben sie, so wie es in den Kinderbüchern meist gelingt, am Ende trotzdem erreicht, wofür sie aufgestanden sind? Das kommt ganz darauf an, ob es uns heute gelingt, sie in uns weiterleben zu lassen: in Form ihrer Überzeugungen und ihrem Mut zum Ungehorsam und zur Rebellion gegen jene Mächte, die zu ihrer Zeit längst zu jener tödlichen Größe angewachsen waren, zu der sie nie hätten anwachsen dürfen. Dann lautet die Botschaft: Widerstand kennt keinen Aufschub. Wem die Unterdrückung eines Volkes, einer Ethnie, einer Gruppe oder auch nur einer einzelnen Person unerträglich erscheint, der muss unverzüglich dafür aufstehen.
Für seine Ideale, die eigene innere Haltung einzustehen und, wenn nötig, aufzustehen – ist das schon Widerstand? Nicht zwingendermaßen, würde ich meinen, aber leider allzu oft. Immer dann nämlich, wenn sich die eigene Haltung nicht mit jener einer gerade dominanten (Über)Macht vereinbaren lässt. Der schweizerische Soziologe, Schriftsteller und einstige Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler hat den Widerstand gegen den menschenfeindlichen globalen „Raubtierkapitalismus“ zu seinem Lebenswerk gemacht. Dazu ermutigt hat ihn die Bekanntschaft mit keinem Geringeren als Che Guevara, der seines Zeichens eine Art Idol für eine bestimmte Art des Widerstands war. In hohem Maße inspiriert hat Ziegler seine Bekanntschaft mit Jean Paul Sartre; der wiederum mit Simone de Beauvoir „liiert“ war – was man für sich genommen bereits als Spielart des Widerstands interpretieren könnte. Es scheint fast so, als sei die Bereitschaft zum Widerstand, oder zumindest die Sympathie für jene, die kompromisslos für ihre Haltungen einstehen, irgendwie „ansteckend“. Mir geht es so beim Waldviertler Schuhhersteller Heini Staudinger, der vor einigen Jahren von einer über-mächtigen FMA (Finanzmarktaufsicht) zum Widerstand gezwungen wurde, da diese sich gegenüber dem Kleinunternehmer unnachgiebig zeigte, während sie sich gegenüber der Konzernmacht tendenziell zahnlos gab. Als Unternehmer ist er, als Eigentümer von Privatvermögen und Mehrwert-Begünstigter, Kapitalist im Marx´schen Sinne. Er ist allerdings auch bekannt für seine vernunftbasierten Projekte einer ökologisch-ökonomisch ausbalancierten Entwicklungshilfe in Afrika. Und um beides nicht zu gefährden (ersteres v.a. wegen der Gefährdung vieler fair bezahlter Arbeitsplätze in einer der strukturschwächsten Regionen Österreichs) blieb Staudinger gar nichts anderes übrig, als seine Empörung über die stupiden Reglements der Behörde zum Ausdruck zu bringen. Und „Widerstand kommt aus Empörung“ heißt es u.a. ja auch bei Stéphan Hessel. Dem Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte von 1948 war es im hohen Alter von 93 Jahren noch ein Anliegen, auf wenigen Seiten auf den Punkt zu bringen, worum es bei Widerstand geht: um das gewaltlose Sichtbarmachen einer konsequenten Haltung. Die größte Gefahr für den Widerstand bestehe nämlich nicht in jenen Obrigkeiten oder Regimen, die den Widerstand am meisten provozieren und selbstverständlich nach Kräften bekämpfen, sondern in der Gleichgültigkeit; dort, wo jene, die Widerstand leisten sollten und könnten, es nicht tun. Deshalb skandiert Hessel: „Empört euch“…endlich! Diejenigen, die sich dadurch besonders bedroht fühlen, werden den Widerstand jedenfalls ablehnen und verlassen sich dabei nur allzu oft auf ihr altbewährtes Arsenal: Geld, Gewalt und Gleichschaltung. Dass Widerstand dort am dringlichsten ist, wo er am stärksten unterdrückt oder sogar kriminalisiert wird, passt zu der Beobachtung, dass Widerstand einen Gutteil seiner Kraft aus seiner Ablehnung schöpft. Daher hat Widerstand in der Literatur meist Erfolg und bestätigt den im Zusammenhang mit Widerstand ebenfalls oft zitierten Mahatma Gandhi: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ Pippi Langstrumpf wusste das und unzählige Held:innenfiguren der klassischen und auch neueren Kinder- und Jugendliteratur haben auf dieses Prinzip erfolgreich vertraut. Niemals ist der dort nachzulesende Widerstand naiv oder kindisch. Vielmehr sind es meist nur allzu prägnante Parabeln, die sich ebenso an den Widerstands-Nachwuchs wenden, wie sie die Haltung der erwachsenen Vorleser oder Herschenker einer Prüfung unterziehen.
Meist imponiert es uns, wenn sich der/die Protagonist:in so ziemlich jeglicher „Autorität“ widersetzt, so sich diese nicht ausreichend legitimiert; und sei sie auch noch so furchteinflößend. Meist fiebern wir mit, wenn sie vom „rechten Weg“ (wer auch immer diesen als solchen definiert hat) abweichen und (mehr oder weniger) bewährte Routinen, Überliefertes, unsinnigerweise Verbotenes und vermeintlich Unbesiegbares hinterfragen und entzaubern. Und meist wurden und werden Held:innen von ihren Schöpfer:innen mit einer Art Unbesiegbarkeit, vornehmlich einer bunten Vielfalt an besonderen Fähigkeiten oder Kräften ausgestattet. Man denke nur an das oft zitierte „Gallische Dorf“, dem Inbegriff des Widerstands schlechthin.
Vielleicht offeriert uns die in Literatur, Lyrik, Film, bildender und darstellender Kunst aller Art immer wiederkehrende Ermutigung zum Widerstand aber durchaus auch diese Botschaft: dass nämlich jede:r von uns reichlich mit besonderen Fähigkeiten und Kräften ausgestattet wurde, derer wir uns nur besinnen und zu deren Anwendung wir uns vielleicht manchmal überwinden müssen.
Ist Widerstand daher ein Akt der Selbstermächtigung? Ich denke schon. Es beginnt mit der Abkehr vom Gleichmut, bewegt sich entlang einer wachsenden Kritik, steigert sich vom bröckelnden Gehorsam zum vielleicht notwendigen Ungehorsam und kann im Widerstand gipfeln. Wenn das nicht ein wesentlicher Auftrag von Bildung ist…
„Die meisten von ihnen (jungen Menschen, Anm.) wurden und werden in einem Bildungssystem sozialisiert, in dem Kritik, Hinterfragen, Skepsis, Infragestellen nur in seltenen Fällen – entweder durch die ´Unternehmenskultur´ einer bestimmten Schule oder durch die Aufgeschlossenheit individueller Pädagogen – erwünscht und gefördert werden. Lob und Ermunterung für unruhige Verhaltensweisen sind selten. Angepasstheit und Schweigen sind der weitaus höhere Wert. Wenn sie dann in die reale Welt ´entlassen´ werden, betreten sie diese ohne das entsprechende Handwerkszeug, ohne Übung und ohne Technik im kritischen Diskurs. Eine eigene Meinung mit Argumenten abzusichern, erfordert Training, Zuspruch und die Aufforderung zum Mut.“ (Anneliese Rohrer, Ende des Gehorsams, 2011)
Wenn sich mit der Lektüre dieses Beitrags die Anzahl der offenen Fragen erhöht hat, dann war mein Ansinnen – ganz in der sokratischen Tradition, doch ohne mir etwas anmaßen zu wollen – gelungen. Denn je mehr wir uns der, ebenfalls einem gewissen Sokrates zugeschriebenen, Erkenntnis „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ zuwenden, desto konsequenter werden wir nicht aufhören, Fragen zu stellen. Wer Fragen stellt, bleibt beweglich im Geiste. Fragen zu stellen ist im Sinne des Falsifikationsprinzips nach Popper im Übrigen das Kernprinzip jeder seriösen Wissenschaft.
Wenn es sich dagegen wie ein Plädoyer für Pluralismus in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik gelesen haben sollte, bin ich nicht minder zufrieden. Ist Vielfalt doch ein Grundprinzip allen Lebens… und übrigens auch der Titel der nächsten Freigeist-Ausgabe.