Halt still … … sonst gehörst du nicht dazu

Ilan Stephani, über das Stillsitzen Müssen in der Schule, die kollektive Sucht nach einem niedrigen Energieniveau und das Schütteln als evolutionär gesündeste Art vom Weg der Worte auf den Weg der Energie zu kommen.
(Interview mit Thomas und Martina Weihrich vom Bildungskongress „Möglichkeiten und Visionen für DEIN Kind“ 2023).


Für den freigeist gekürzt von Gudrun Totschnig

Martina: Wir freuen uns sehr, dass du unserer Einladung gefolgt bist, liebe Ilan.

Ilan: Vielen, vielen Dank für eure Einladung. Tatsächlich habe ich sie deswegen angenommen, weil sie so neu für mich ist. Ich arbeite ja eher mit Menschen wie mir, verkorksten Erwachsenen. Mit quicklebendigen Kindern zu arbeiten ist bisher gar nicht mein Raum. Umso schöner, dass wir gemeinsam forschen können. Vielen Dank für das Zutrauen!

Thomas: Wie bist du denn darauf gekommen, dass der Körper so immens wichtig für unser Leben ist, unser Leben ja quasi bestimmt?

Ilan: Ich bin gar nicht direkt auf den Körper gekommen im Sinne von: Ahaaa, Körperlichkeit ist die Lösung – ja, dann nichts wie rein in die Körperlichkeit. Das war nicht mein Weg – mein Weg war nur schnellstmöglich weg vom Problem. Und das Problem war, im Kopf zu sein. Das heißt, ich bin ein bisschen so zum Körper gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde, ein bisschen hinterrücks – einfach nur weg vom Kopf, einfach nur weg davon, zu viel zu denken. Ich war eine extrem unauffällige, gute Schülerin, Jahrgangsbeste, ich habe die 9. Klasse am Gymnasium übersprungen. Also niemand hat sich Sorgen um mich gemacht, was hochtraumatisch war, weil man hätte sich echt mal Sorgen um mich machen sollen, wieso ich so gut denken und so wenig fühlen, so wenig spüren kann. Nach der Schulzeit habe ich über ein paar Umwege, über die wir auch noch sprechen können – ohne Vorbild zu sein – angefangen mehr und mehr meine Seele – ich mag das Wort nicht – zurückzuholen in meinen Körper. Ich habe diese Art von Einheit wieder begonnen herzustellen, die in der Kindheit, in der Jugend als Tochter aus gutem Hause einfach zerbrochen war. Ja, das war mein Wachwerden für die Rolle des Körperlichen und auch dafür, dass wir letzten Endes Körperlichkeit nicht ersetzen können. Wir können Körperlichkeit mit nichts ersetzen. Ein Mensch, der nicht in seinem Körper ist, ist ein Mensch, der das Leben nicht lieben wird, weil der Ort, das Leben zu lieben, der Körper ist – das dürfen wir einander nicht wegnehmen, das dürfen wir nicht belasten. Das müssen wir beschützen für uns selbst, für andere Generationen und andere Menschen, für andere Lebewesen.

Martina: Mir ist das viel später als bei dir in mein Bewusstsein gekommen, dieses dissoziiert sein vom Körper.

Ilan: Das ist so ein krasses Wort ‚Dissoziation‘, aber lasst es uns mal Dissoziation nennen – es ist wirklich eine Abspaltung. Eine ursprüngliche Einheit erlebt sich nicht mehr als Einheit und dann wundert man sich, warum das Leben kompliziert ist oder depressiv. Das Gute ist – wie du es andeutest, Martina – dass es nicht darum geht Körperlichkeit zu lernen, eine Technik zu lernen, sondern es ist viel mehr: Körperlichkeit findet sich selber wieder. Das heißt, es ist eigentlich ein ultimativ entspannender Prozess, sich selber wieder zu spüren, weil wir endlich die ganzen Schichten der Kultur wieder loslassen dürfen. Und ganz ehrlich: dieser Tiger, diese Tigerin in uns, der und die sehnt sich ja danach diese menschliche Kultur abzuschütteln, das ist ja Erholung. Das ist Hingabe in die Kraft.

Martina: Ich habe ja viele Jahre als Lehrerin gearbeitet und habe Dinge gesehen, die ich nicht mehr mittragen wollte. Jemand sagte mir mal: „Jetzt kommen ja wieder die Erstklässler, die müssen erstmal lernen, eine dreiviertel Stunde zu sitzen.“

Ilan: Wir wissen heute, wir brauchen die Stimulation der Sinne und Bewegung, damit wir überhaupt in einer intelligenten Weise denken lernen können; das heißt: genau das, was die Schule so hyped, nämlich das Denken ist das, dem sie die Basis entzieht, nämlich die Bewegung und das Spüren. Ich beziehe mich auf die Schulzeit ganz klar als ein kollektives Entwicklungstrauma. Diese gesamte Gesellschaft leidet an dem Sitz-Trauma ihrer Schulzeit. Und dann rennen wir herum, versuchen die Welt zu retten – nachdem man uns so früh eingeprügelt hat: Halt still, sonst gehörst du nicht dazu! Solange wir diesen Code in uns laufen lassen, werden wir nicht aufstehen für eine bessere Welt. Wir werden darüber reden, wir werden beteuern, wir haben es besser gewollt. Aber wir haben es nicht besser gewollt, denn wir haben uns nicht anders bewegt – die Dinge sind körperlich. Und deshalb ist es so eine ganz klare, für mich kollektive, gesellschaftliche Unterlassungs-Sünde, so viel zu wissen darüber, was Menschenkörperchen brauchen, um gesund aufzuwachsen und es allen weiter vorzuenthalten, weil die Mühlen der Institutionen langsam mahlen – nein! Die mahlen langsam, weil wir faul sind, weil wir schlafen, weil wir nicht gerne genug leben, weil wir nicht genug spüren.

Thomas: Wir alle kommen aus diesem System und haben das alle so gelernt …

Ilan: Ja, aber am Ende des Tages haben deine Kinder recht, sie schauen dich an und sagen: Hast du was getan oder nicht? Es geht nicht um Schuld, es geht darum, dass wir nicht gehandelt haben. Wir haben es nicht anders gelernt als geliebt zu werden für eklatante Nicht-Handlung. Und es ist tatsächlich noch so, dass diese Erstklässler jetzt erstmal lernen müssen, ruhig zu sitzen. Doch lasst uns Augen und Ohren aufsperren, um so viel wie möglich zu lernen von diesen Lebewesen, die hoffentlich noch nicht soweit verdorben und verkorkst sind: dass wir uns erinnern können daran, wie wir selber gedacht sind, dass wir uns triggern lassen können von solchen Bündeln der Lebensenergie, dass wir merken, wie viele Mauern wir eingezogen haben zwischen uns und wirklicher Ekstase. Aber nein: Das Kind muss sich anpassen. 

Martina: Da fallen mir diese Sandwesten an Schulen ein, mehrere Kilo schwer, die bewirken sollen, dass Menschen, die bewegungsfreudig sind, auch am Platz sitzen bleiben. Die Schulleitungen fanden das ganz toll und die jungen Menschen hätten auch selber gesagt, es fühlt sich so gut an. Für mich ist das ein künstliches Ruhigstellen, damit sie auf eine Weise funktionieren, wobei ihr Körper etwas anderes sagt.

Ilan: Vielleicht wurde das ja sogar gerechtfertigt mit kollektiver Hyperaktivität, wo ich mir denke: Warum zeigen denn gesunde Bewegungskörperchen eine Rastlosigkeit in ihrer Bewegung, was erziehen wir denn da? Was spiegelt uns diese Hyperaktivität? Aber nein: Symptom und dann eine Sandweste drauf; um dann später als Erwachsene in einer gewissen Weise funktions- oder arbeitstüchtig zu sein haben wir Taubheit eingespeichert. Wir sind weniger sensibel, wenn uns jemand umarmt, wir sind weniger sensibel, wenn uns jemand Komplimente macht, wir sind weniger sensibel, wenn uns jemand bedroht. Und das wird ja häufig als ein Muskelpanzer bezeichnet – und es ist total lustig, weil diese Sandwesten sind ja eigentlich wie ein Muskelpanzer: Das mit dem Muskelpanzer wirst du schon noch lernen – bis dahin leihen wir dir einen, der wirkt genauso – er sediert, wo man lieber aufspringen und wegrennen sollte, es ist so pervers! …und das ja mit dem Vorhaben, Menschen an die Hand zu nehmen, um ihnen zu zeigen, wie Leben funktioniert. Das ist schäbig! Wir wissen, dass wir es besser wissen. Wir wissen, dass das, was wir über das Leben gelernt haben nicht lernenswert genug ist für Generationen nach uns, wenn es wirklich darum geht, glücklich zu sein, und ekstatisch und frei. Warum tun wir das? Ich glaube, am Ende des Tages ist es auch eine sehr egoistisch Rechnung – weil, wenn ich sehe, wie unverdient maßlos lebendig und glücklich Menschen nach mir leben dürfen, wenn ich das wirklich an mich ranlasse, dann bricht mir wegen mir mein Herz. Und mit diesem Schmerz meiner verlorenen Jahrzehnte will ich nicht alleine sein, mit dem will ich nicht mal sein.  Hoffentlich bleibt mein eigener Schatten vor mir verborgen bis ich tot bin, aber das sind die Kräfte, die in der Waagschale sind, wenn wir darüber reden: Können wir nachfolgenden Generationen eine andere Welt vermitteln? Das braucht unseren brutalen, ganzen Einsatz – uns selbst gegenüber, und auch demgegenüber gescheitert zu sein.

Wir nehmen jungen Menschen so fundamental und auf so vielen Ebenen und so perfide ihr Recht auf eigene Grenzen, einen eigenen Weg, ihre eigene Willenskraft, ihre eigenen Lerninhalte weg. Und dann hauen wir auch noch auf sie drauf, wenn ihr Herz zu ist. Dabei ist unseres das geschlossenste. Also da gibt es so viele Dinge, wo wir uns in einer so blinden, unglücklichen Weise in diesen Teufelskreis hineinschrauben. Die Kraft, die junge Menschen mitbringen, diese Explosivität, diese Rastlosigkeit, wenn mir das um die Ohren fliegt, was ich als Kind dachte nicht zu dürfen …

Martina: Wir sperren junge Menschen jetzt wieder in dieses Gefängnis, indem wir auch waren. Ich sehe es ja auch selbst in meinem Unterricht in der Schule: wenn da jemand auffällig war und um sich getreten hat, weil er wütend geworden ist, dann ist er in die Außenseiter-Ecke gestellt und beschämt worden. Vielleicht kannst du zu diesem Beschämen, der Scham noch was sagen?

Ilan: Scham erfüllt eine biologisch evolutionär wichtige Rolle, dazu gibt es eine sehr schöne Schilderung: Wir spulen jetzt ein paar Jahrtausende oder Jahrmillionen zurück und ihr seid Tiger und Tigerin, das ist eine frühere Inkarnation von euch beiden (lachen) und ihr habt einen Kampf, Tigerin und Tiger. Jetzt ist es so, ihr seid eigentlich beide gleich gut im Rennen und ihr kämpft um eure Reviere. Jetzt machst du, Thomas, einen falschen Tritt, eine falsche Bewegung und Martinas Pranke erwischt dich an deinem Bauch und du fängst augenblicklich an zu bluten. Und das ändert die gesamte Situation: du wusstest vorher, du bist mit ihr auf Gleichstand, und ab dem Moment merkst du: Ich bin so tief verwundet, so tief getroffen, ich muss augenblicklich schauen, dass ich mich irgendwie in Sicherheit schleppe. Das heißt, dein Stoffwechsel, dein Nervensystem, dein Kreislauf, alles fährt aus dem Kampfmodus runter und zieht sich zusammen, damit du möglichst wenig Blut aus der Wunde verlierst und jetzt Thomas – das ist der wichtige Punkt – jetzt hast du, sagen wir, dein sicheres Revier, in dem Martina dir nicht folgen wird, indem du heilen kannst, zehn Meter entfernt. Diese zehn Meter bis zu dem sicheren Platz, spielst du Martina vor, es sei alles in Ordnung: „Lalalala, alles in Ordnung – nö, nichts passiert, tut gar nicht weh“ und das ist Scham. Das ist biologisch gesehen Scham. Es ist das Verbergen der Wunde vor der Außenwelt. Scham ist, der Außenwelt die eigene Wahrheit nicht zu zeigen, weil es sich nicht sicher genug anfühlt. Wenn du jetzt, so geht die Geschichte weiter, nach diesen zehn Metern in deinem Nest gelandet bist, dann lässt du die Scham natürlich los, wirfst dich auf den Boden und zitterst und vibrierst und leckst deine Wunden und lässt dich wieder zu Kräften kommen – und das ist der Punkt, den Menschen nicht machen: diese zehn Meter zu ihrem sicheren Nest. Sie machen auch: „Nö, macht mir gar nichts, ich bin cool, ich bin cooler als ihr alle.“ Das ist alles verschobene Scham, aber wir kommen nie wieder in der Sicherheit an, wir heilen nie wieder diese Wunden. Im Gegenteil, während dieser zehn Meter Richtung Nest erzählst du dir die Geschichte: „Das ist mir passiert, weil ich wirklich nicht liebenswert bin, die haben Recht. Martina hat mich am Bauch verletzt, weil ich da nicht leben sollte.“ Und diese psychische Geschichte, die wird dein Gefängnis aus Scham, dein Gefängnis aus Zurückhaltung, dein Gefängnis aus Selbsthass, dein Gefängnis aus Unglück. Und es wird natürlich eine Vollbremsung für deine Lebensenergie, 24 Stunden am Tag. Das heißt, wie gehen wir mit Scham um? Zum Beispiel: Meine Lehrerin hat mich dumm genannt, dann wird mal darüber geredet. Und dann heilt die Scham, manchmal heilt sie dann auch nicht. Es ist viel effektiver zu sagen: Es ist egal, was die Lehrerin mir gesagt hat, ich erinnere den energetischen Kollaps, den psychischen Kollaps aus diesem Scham Thema und dann fang ich an mich zu schütteln, dann fange ich an zu tanzen. Ich meine, probiere mal ausgelassen zu tanzen und dich währenddessen hassenswert zu fühlen oder nicht existenzberechtigt! Und das meine ich mit körperlicher Medizin. Wir müssen voneinander lernen, den Weg der Energie zu nehmen – nicht den Weg der Worte. Das ist fein, es ist schön, dass wir dieses Gespräch führen können, indem wir alle drei die deutsche Sprache gelernt haben – das ist sehr erfreulich, aber es ist die cherry on top, es ist nicht der Boden. Der Boden ist, wie es sich anfühlt, unser eigenes Herz schlagen zu spüren, das ist der Boden und so müssen die Dinge aufgebaut werden, sonst können sich Menschen einander nichts Hilfreiches vermitteln. Das ist die Geschichte der Scham und es ist die Geschichte der Scham-Heilung, einen Raum der Sicherheit zu kreieren. 

Martina: Für Eltern, die das jetzt hören, oder Lehrer oder Lernbegleiter: Wie können sie das konkret umsetzen?

Ilan: Ja, lass uns kurz bei den Eltern bleiben, weil was ich häufig höre von Eltern ist: Ich mache mir wahnsinnig Vorwürfe nicht mehr für meine Kinder da zu sein, nicht mehr für sie da gewesen zu sein oder ich schäme mich, eine schlechte Mutter zu sein. Dieses „Ich möchte gerne mehr für die da sein, die mir anvertraut sind und die ich liebe“, das ist an sich sehr ehrenwert, aber wenn jemand jahrelang oder jahrzehntelang mit den Selbstvorwürfen herumläuft, dann muss man an den Tools, am Handwerk etwas verändern, um dieses Selbstbild loszulassen. Denn es nützt Kindern nichts, wenn die Eltern sorgengebeugt sind. Kinder lernen sich selbst zu geißeln, sich dauernd zu kritisieren ohne Aussicht auf Erfolg und sich zurückzuziehen – das müssen Kinder nicht lernen. Wir machen uns ja Vorwürfe, weil wir ihnen genau so etwas nicht beibringen wollen und das ist das Heilsame. Zum Beispiel: da ist eine Mutter, sagen wir sie heißt Hanna und sie ist 35 Jahre alt. Hanna hatte den ganzen Tag einen stressigen Job, aber abends hat sie vielleicht fünf Minuten für sich, und sei es kurz vor dem Zähneputzen. Sie schließt sich im Badezimmer ein und hofft, ihre Kinder klopfen nicht und sie kann mal fünf Minuten lang Zähneputzen und in diesen fünf Minuten macht sie folgendes: Sie putzt nur eine Minute lang ihre Zähne und vier Minuten lang schüttelt sie sich von Kopf bis Fuß. Erstmal eine Minute lang schüttelt sie den ganzen Körper, um diesen ganzen stressigen Menschen-Tag raus zu schütteln. Die zweite Minute, sagt sie sich diesen Satz von Scham, z.B.: Ich flippe so schnell aus, dass meine Kinder später total traumatisiert von mir sein werden.“ Und sie stellt sich diesen Satz vor und sie beginnt sich zu schämen: „Ich schäme mich für das, was ich besser tun müsste und ich schaffe es nicht mal, mich zu bessern und das ist an sich nochmal besonders schlimm“. Und das ist die zweite Minute und Hanna beobachtet: Wie verändert sich die Atmung, wenn sie sich schämt? Wie verändert sich die Körperhaltung, wenn sie sich schämt? Denn ich meine, das hat sich bei Thomas im Dschungel als verwundetem Tiger auch verändert: von jetzt auf gleich ist er aus dem Kampf in die Vollbremsung gewechselt. Das macht Hanna jetzt auch. Und jetzt die dritte Phase, dafür haben wir uns zwei Minuten aufgespart, bevor die Kinder an der Badezimmertür klopfen, diese zwei Minuten lang tanzt sie wild, und jubelt und schüttelt sich. Und damit meine ich wirklich, Hände über den Kopf reißen und: „Yaaay, ich bin die schlechteste Mutter der Welt!“ Und am besten noch Kopfhörer in die Ohren mit dem Lieblings-Song. So ausflippen, so außer Rand und Band, so lebendig, dass diese Selbstvorwürfe in Hannas Nervensystem gekoppelt werden an ‚Auftakt einer super Party‘. Und auf diese Weise hört Hanna auf, sich zu schämen, dass sie eine schlechte Mutter ist. Der Weg der Worte, der bringt gar nichts. Kein einziger Mensch hat jemals seine Schuld- und Schamgefühle aufgelöst, indem er sich von den besten Freundinnen und Freunden erzählen ließ: „Hey, du bist prima, so wie du bist“ – das heilt niemanden. Was heilt, ist der Weg der Energie. Hanna koppelt eine schlechte Mutter zu sein, an den Beginn einer Party. Der Glaube eine schlechte Mutter zu sein hat keine Kraft mehr über ihre Energie – und schwuppdischwupp by the way haben ihre Kinder eine sehr präsente und glückliche Mutter. 

Martina: So einfach.

Ilan: Wir reden viel von Lebendigkeit und von Gesundheit usw. in Bezug auf ältere und jüngere Menschen. Aber im Endeffekt, was uns so sehr triggern kann, ist die Glücksfähigkeit junger Menschen, weil in uns selber früher auch so viel Glück reingepasst hat. Und dann wurde dieser innere Raum immer kleiner: Solange ich nicht glücklich bin und das Leben meiner Träume leben darf, darfst du es schon mal gar nicht, weil du gehst in die Schuhe und aus dir muss noch was werden. Ob wir es so formulieren oder nicht, aber es gibt so etwas wie ein sich-hochdienen-müssen, sich-hochleiden-müssen – und das ist perfide, das dürfen wir nicht weitergeben. 

Martina: Das Leid ist danach ja nicht zu Ende …

Ilan: Ich meine es gibt eine kollektive Sucht zu leiden, es ist eine kollektive Sucht nach einem niedrigen Energie-Niveau. Wenn wir sehr ekstatisch und lebendig werden, da haben wir dann schon so etwas wie einen kalten Entzug. Wo sind meine Probleme, wo ist mein Selbstzweifel, wo ist meine Depression. Mitzuhalten mit dem high-speed, mit der Lebensenergie in jungen Körpern, das ist eine Herausforderung. Aber es ist es so wert, uns durch diese Herausforderung wieder heilen zu lassen, bis wir selber auch wieder die sind, die wir eigentlich sein wollen. Die Alternative ist, auf die Gesünderen und Lebendigeren draufzuhauen, bis sie dasselbe Level an Elend erreicht haben, wie wir in unserem Inneren; aber wir spüren es weniger, denn unser Muskelpanzer ist älter, herzlichen Glückwunsch! Lass es dir von einem Dreijährigen sagen, wie wenig du in deinem Leben bisher wach gewesen bist, von wem denn sonst? Von einem Zweijährigen, okay, geschenkt. Die Lehrer für morgen, die sind nicht 80, die sind nicht 60, die sind nicht 30, die sind sehr, sehr jung – die sind vor der Sprache!

Thomas: Es gilt eben auch die Wahrnehmung dafür überhaupt erstmal zu bekommen.

Ilan: Ja, wobei ich sagen würde die Wahrnehmung ist augenblicklich da, sobald wir mit jungen Menschen Zeit verbringen und dem widerstehen, „normal“ mit ihnen umzugehen. Dieses „komm, komm hier rüber, jetzt mach doch“ und „och, das hast du schön gemacht, gut, ein tolles Bild“- lasst mal diesen ganzen Scheiß weg! Lass mal einfach alles weg, was du normalerweise mit dieser Berechtigung eines Erwachsenen tust. Du bist dann sofort mit deinem eigenen Schmerz konfrontiert. Es ist nicht schwierig, die Wahrnehmung dafür wieder zu bekommen. Es ist nur schwierig, das dann wahrzunehmen, was man dann wahrnimmt – und das ist eben der eigene Schmerz. Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie, oder deine eigene Trauma-Session. Ist ein bisschen wie eine Rückführung. Und schon kommen die Stories hoch. Der Umgang mit Jüngeren dient immer auch dem, was wir selbst so gut abschneiden. Ein normaler Erwachsener, das kann ein Lebewesen nicht sein wollen – nichts daran ist lebendig, gesund oder erstrebenswert. Wie kann man den Kosmos der Möglichkeiten so verkommen lassen? Das ist nicht nur der besonders strenge Spruch in der Schule, es ist die 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche präsente Beleidigung und Ignoranz dem Leben gegenüber. Das ist das, wie wir unseren Kindern weh tun. Uns selbst auch, aber wir scheinen uns ja gar nicht so besonders viel wert zu sein. Aber wenn uns unsere Kinder so viel wert sind – das ist ein sehr gründliches Aufräumen des Lebens: Die sollen den Asphalt von der Straße kratzen und stattdessen irgendwelche blühenden Abenteuerpfade entlang machen. Das sollen sie machen, das braucht es, sie sollen dieses Leben auseinandernehmen; in der Hoffnung, dass sie so sehr näher an ihren Instinkten sind, als wir an unseren; dass es diesmal eine gute Story wird. Aber am Ende des Tages haben wir nicht mal das Recht, diejenigen zu sein, die das bewerten. Hauptsache Veränderung. Veränderung. Veränderung. Und wir opfern eine Menge, wenn wir zur Veränderung ja sagen. Vielleicht dämmert uns eines Tages, dass es langsam aber auch die einzige Option ist, zur Veränderung ‚Ja‘ zu sagen. Wir wissen nicht, ob sie die Welt besser machen, wir wissen nicht, ob sie das wollen, wir wissen nicht, ob sie die besseren Menschen sind, wir wissen es nicht. Es ist eine sehr tiefe, sehr finale Demut, es ist ein sehr finales sich Verbeugen vor den Füßen der nächsten Generation. Unverdient, wir lieben sie, ohne dass sie es verdient hat. Tja, da sind wir mit unserer bedingungslosen Liebe, die wir selber nicht bekommen haben. Das finde ich angemessen für unser Potenzial als Menschen: uns etwas abzuverlangen, was unsere Eltern uns nicht vorgemacht haben. Und selbst wenn wir daran scheitern, aber es probiert zu haben, das finde ich attraktiv. 

Martina: Wir sollten den jungen Menschen jetzt neue Wege eröffnen, damit etwas Neues passieren kann…

Ilan: Statt „Wie können wir das Neue weitergeben oder die Veränderung weitergeben?“ ist es ja eigentlich vorsichtshalber mal besser, gar nichts weiterzugeben. Vorsichtshalber einfach mal die Klappe zu halten und sich gut zu überlegen, ob man das gerade genau so weitermachen möchte wie vorher. Wir könnten weitergeben: „Ich kümmere mich um mich selbst, ich spüre mich selbst, ich schüttle mich selber, ich gehe selbstverantwortlich mit meinen Triggern um, wenn du mich mal wieder rasend gemacht hast.“ 

Thomas: Das heißt, wir müssen eigentlich nur die Sicherheit geben, den Möglichkeitsraum offenhalten und ihn nicht verengen?

Ilan: Ja, es gibt diesen Instinkt von beiden Seiten: Da steht ein kleines Körperchen neben einem großen Körper und das kleine Körperchen tastet nach dem Hosenbein und tastet nach der Hand. Und diese Hand möchte diese große Hand spüren, diese große Hand von diesem großen Körper und diese brummende tiefe Stimme von diesem großen Körper, die sagt: „So, wir gucken uns das mal an, ich zeig dir mal wie das geht, ich zeig dir zumindest, wie ich das gelernt habe und wie ich das machen würde und wir gucken, was passiert und ich bleibe da – komm, wir machen einen Schritt nach vorne.“ Das ist ein ‚ich initiiere dich in diese Welt, ich zeige dir das Leben‘ und das ist eine ganz, ganz wichtige Rolle, für die wir die Ruhe brauchen, denen zu lauschen, die gerade von uns an die Hand genommen werden. Wenn ich von den Großen aber immer nur statt Berührung, statt Initiation und statt gemeinsamem Erforschen Bewertungen und Noten bekommen habe, dann kommt dieser natürliche Instinkt nicht, der fragt: „Zeigst du mir das? Zeigst du mir, wie du das machen würdest?“ Und dann haben wir eine auf die Herausforderungen des Lebens sehr unvorbereitete Generation. Dann rennen wir rum und sagen: Jemand muss die jungen Leute schützen vor allem möglichen, vor ungeschütztem Sex mit 14 usw. Wir müssen sie vor allem möglichen schützen, aber erst nachdem wir sie so sehr aus ihrem Vertrauen zu uns weggeprügelt haben, dass wir an sie nicht mehr rankommen. Und dann finden wir es problematisch, dass sie mit 12 Pornos gucken, oder wer weiß was. Wo ich mir denke, wir hätten sie einfach nicht so unfassbar enttäuschen müssen, in Bezug auf uns. Dann hätten wir jetzt nicht das Gefühl, wie kommen wir denn heute noch an die jungen Leute ran? Wenn wir an uns selbst nicht rankommen, an diese inneren Frequenzen, Gefühle und Empfindungen, dann kommen wir an niemanden ran, an niemanden, nicht mal an andere Erwachsene.

Martina: Das heißt also es wäre jetzt hilfreich, erstmal bei uns zu schauen – das überträgt sich dann automatisch auf die jungen Menschen?

Ilan: Es ist, würde ich sagen, ein Zwei-Schritte-Programm: Etwas triggert mich und ich checke kurz: kann ich mir in dieser Situation erlauben, mich zu schütteln und es ist beispielsweise ein Lehrer vor einer Schulklasse der für sich feststellt: ‚Nein, es fühlt sich gerade nicht sicher genug an, sich zu schütteln‘. Dann lieber Lehrer, kein Problem, du wartest bis Feierabend, gehst nach Hause, stellst dir die Situation da vor und spürst wie du da beschämt, überfordert, wütend auf die Kinder da standest, spürst das und dann löst du es auf und schüttelst dich. Und schütteln ist wirklich durch den Mund atmen, Augen zu, Handgelenke schütteln, Kniegelenke schütteln, einfach den gesamten Körper durchschütteln, wilde Musik auflegen. Es ist nicht, dass du nicht mit der Außenwelt in Kontakt gehst, oder dich nicht um die Außenwelt kümmerst. Aber du kümmerst dich zuerst, immer zuerst um die Innenwelt, das ist das Praktische, was ich gerne reingeben würde. Und es kann sogar sein, dass du gar nicht bis Feierabend warten musst bevor du dich schüttelst: Du gehst einfach in der Pause aufs Klo und dort schließt du ab und dann tust du halt so, als würdest du drei Minuten auf dem Klo sitzen, in Wahrheit saßt du nur eine Minute auf dem Klo und zwei Minuten lang hast du dich geschüttelt. Du hast erst einmal das was dich triggert durch eine Schüttelwelle zwei Minuten lang durch dein eigenes Nervensystem fließen lassen. Und dann interagierst du mit der Außenwelt ganz anders, mit jungen Menschen und mit anderen Lebewesen, wenn du in deinem Körper vibrierst. Und wenn du dort nicht vibrierst, sondern in deiner Story im Kopf hängen bleibst, über schwer erziehbare Jugendliche oder wer weiß wen, dann ist das Ganze eine abgekartete Sache in deiner einsamen Welt der Projektionen. 

Martina: Mir kommt das Bild, wie wir uns alle gemeinsam schütteln.

Ilan: Es gibt mittlerweile ganze Schulklassen, die morgens stramm aufstehen, um sich zu schütteln, das ist total cool! Schütteln ist ja nicht eine Methode, sondern evolutionär die gesündeste und automatischste Bewegung der Welt. Sobald Säugetiere sich sicher fühlen und Stress hatten, fangen sie an zu zittern. Wir hatten Stress, warum schütteln wir uns nicht? Weil wir ständig Angst haben. Also sobald wir aus dieser Schreckstarre kollektiv rausfinden, haben wir wirklich einfach nur noch den Job, unseren Instinkten in Bezug auf Vibration nachzugeben. Shaking future! So schwer kanns doch nicht sein… Aber das Problem ist: es macht glücklich und damit müssen wir halt klarkommen, das ist halt der Punkt. Wir dürfen es nicht so tragisch nehmen, wenn es uns gut geht.

Eigentlich so einfach.
Ganz ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.

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