Feiern ist ein kulturhistorisch nicht näher datierbarer Vorgang. Der Mensch kultiviert das Feiern vermutlich mindestens schon so lange wie basale Lebensgrundlagen, wie z.B. die Nahrungsaufnahme, den Geschlechtsakt oder den Schlaf. Dies deshalb, weil der Mensch ein soziales Wesen ist, welches nicht darauf ausgerichtet ist, sein Leben in Einsamkeit zu verbringen. Was nicht heißen soll, dass man nicht bestimmte Dinge auch ganz für sich allein feiern kann. Mein ursprüngliches Vorhaben, das Feiern, v.a. die sehr verschiedenartigen Formen des Feierns, nämlich jene zur Ankunft, zum Abschied, zu wiederkehrenden Anlässen privater oder gesellschaftlicher Art analytisch in angemessener Weise zu thematisieren, hat mich letztlich überfordert. Doch es zählen auch diese singulären Ereignisse, wie z.B. Jubiläen, zu unserer Feiervielfalt. Und darum soll es in diesem Artikel gehen.
Von Jost-Alexander Binder
„Wir haben Grund zum Feiern!“
„Williamsbirne, Dujardin, Hennessy, Remi Martin, Fernet Branca, Underberg, Portwein und Bordeaux“… trällert Otto Waalkes bei seiner Interpretation der Melodie von Billy Joel’s „We didn’t start the fire“. Die politisch motivierten Zeilen, die sich mir an dieser Stelle nicht angeboten, sondern aufgedrängt haben, habe ich letztlich wieder herausgestrichen. Feierstimmung stellte sich bei mir angesichts der nahöstlichen Grausamkeiten sowieso schon seit Wochen nicht mehr ein. Aber das wollte ich nicht auch noch in einem Text bejammern. Stattdessen habe ich meine Frage mit Blick auf die nahenden Silvesterfeiern darauf reduziert, ob es den vielbesungenen Alkohol eigentlich braucht, um in Feierlaune zu kommen, in dieser zu verweilen, oder selbige verkraften zu können. Doch auch dazu gibt es unterhaltsamere Texte, ich empfehle die „Kurze Geschichte der Trunkenheit“ von Mark Forsyth: kulturgeschichtlich zweifellos aufschlussreich und vielleicht ein Versuch, die wahre Tragödie des Alkoholkonsums über die Völker und Zeitalter hinweg satirisch zu bewältigen. Und das tut ja auch der aus dem Barmixer geshakte Text von Otto. Ich erlaube mir also auch hier, die vertiefende Analyse zu delegieren und belasse es, was den Alkohol betrifft, bei einem feierlichen Prosit, denn …
… der Jubilar wird 75!
Wenn wir mit „Feiern“ titeln, dann darf die Gelegenheit genutzt werden, uns auch mal selbst, stellvertretend für viele vorangegangene Redaktionsteams, auf die Schulter zu klopfen. Oft sind es die langjährigen Weggefährt*innen, die – meist ein wenig anekdotisch – aus dem Leben und Wirken eines Jubilars berichten. Zu diesen zähle ich definitiv nicht. Ich versuche es, aktuell inspiriert von einem Festakt, dem ich jüngst beiwohnen durfte, trotz meiner vergleichsweise wenigen aktiven freigeist-Quartale, trotzdem.
Auf stolze 75 Ausgaben in ca. 18 Jahren freigeistigen Wirkens blicken wir heute zurück. Wieviel Leidenschaft, wie viel Energie und – ja – auch ein gehöriges Maß an Resilienz und an gelebtem wie überwundenem Widerstand leuchtet durch die bunte Vielfalt der Themen und Layouts. Da brauchte es wahrlich die Pause. Pausen, bekanntlich mitunter Petrischalen der Kreativität – wer, wenn nicht der freie Geist, weiß diese Ressource mehr wertzuschätzen! Dieses kleine Wortspiel mit den Titeln unserer vergangenen sechs Ausgaben hat sich frei(geist)lich allzu sehr angeboten.
Doch freigeist lautet der Name unseres Vereinsorgans nicht schon immer. Die Zeitschrift gab es ja schon lange vor der „Erstausgabe“ des freigeist. Damals hieß sie noch wie der Verein selbst: „Mit Kindern wachsen“. Das zu dieser Zeit ebenfalls bereits schon länger bestehende gleichnamige deutsche Pädagogik-Magazin von allerhöchster Qualität (soviel kollegiales Lob muss an dieser Stelle sein) ersuchte um Namensänderung. Dem wurde selbstverständlich entsprochen – Identität ist wichtig! Eine neu aus der Taufe gehobene Identität, auf die wir heute mehr als stolz sein dürfen. Als Verein, als Schule, als Redaktion, als Mitwirkende, als Leser*innen, Abonnent*innen und Förderer. Ach so?
Wissenswertes
Ein paar Daten und Fakten. Die runden Jubiläen oft ein wenig ab, bevor man auf das Wesentliche kommt: über 400 Menschen haben am freigeist im Laufe der Quartale mitgewirkt. Viele bilden bis heute den redaktionellen und/oder unterstützenden „Brainpool“ des freigeist, bringen sich als Stakeholder direkt oder aus der Distanz mit ein. Besonders hervorzuheben seien einige Redaktionsmitlieder, die dem freigeist als solche über viele Jahre jenen stabilen Rahmen gaben, in dem er sich entfalten und wachsen konnte: Maria Altmann-Heidegger, Paul Braunstätter, Franz-Josef Gaugg, Christine Glaser-Ipsmiller, Sonia Höllerer, Reini Kraus, Renate Liangos, Kay Mühlmann, Luise Muschailov, Karin Rössler, Fritz Schandl, Gudrun Totschnig, Rainer Wisiak – und sicher ist die Liste unvollständig und steht daher „nur“ stellvertretend für so viele Beteiligte, die ihren Einsatz, ihre Kompetenz, ihr Netzwerk, ihre Begeisterung und ihre Kreativität in den Dienst „unserer gemeinsamen Sache“ stellten und stellen: den freigeist textlich und optisch zu gestalten.
Blättert man so durch die Quartale, begegnet den Leser*innen ein bemerkenswertes „who is who“ der Pädagogik- bzw. Alternative Pädagogik-Szene, nebst dutzenden Gastautor*innen und/oder Interviewpartner*innen mit künstlerischem, wissenschaftlichem, politischem oder wirtschaftlichem Hintergrund. Auch hier seien mit Fred Donaldson, Karl Garnitschnig, Jane Goodall, Gerald Hüther, Jesper Juul, Ali Mahlodji, Heini Staudinger, André Stern, Arno Stern, Ilan Stephani, Erwin Thoma nur einige international bekannte Namen stellvertretend für all die anderen genannt.
Nicht zu vergessen die zahlreichen Beiträge der Schulleiter*innen, Begleiter*innen, Schüler*innen und Praktikant*innen. Und der riesige Bilderfundus des seit gut zwanzig Jahren unermüdlich dokumentierenden David Meixner, der mit seinem erfahrenen Blick für Szenen und Stimmungen für den Großteil der Bilder verantwortlich zeichnet, auf Titelseiten und im Heftinneren. Kein Erscheinen des freigeist ohne die Herkulesleistungen unseres Layout-Solisten Christoph Luger und seiner Vorgänger in diesem „Knochenjob“. Keine freigeist-Zustellung ohne das administrative Team rund um Katharina Rubanovits, die sich um Aboverwaltung, Etikettierung, Verrechnung etc. kümmern! Was wäre nicht noch alles erwähnenswert, ja -pflichtig?!
Wesentliches
Nur so am Rande sei erwähnt, dass das Wissenswerte und das Wesentliche schon im Sinne eines vernünftigen Bildungsverständnisses keine scharf getrennten Dimensionen sein können. Aber wie spannt man einen Bogen über einen Wühltisch aus 75 zum Bersten mit spannenden und sorgfältig hand(v)erlesenen Inhalten gefüllten Ausgaben, deren Blattstärke von ca. 20 Seiten im Jahr 2006 auf heute oft mehr als 60 angewachsen ist? Und dies nicht – wie es sonst oft geschieht – durch die exzessive Ausweitung ganzseitiger Werbeeinschaltungen, sondern durch ausschließlich(!) in ehrenamtlicher Tätigkeit entstandene Beiträge.
Bei einem Festakt zu Ehren einer verdienten Person der akademischen Öffentlichkeit, dem ich neulich beiwohnen durfte, wurde in einer Rede laut überlegt, was denn eigentlich gefeiert wird: die Geburt, also dass jemand oder etwas überhaupt einmal entstanden ist? Oder das Alter, also dass jemand oder etwas ein gewisses Alter erreicht, und damit so manches „überlebt“ hat? Trotz womöglich widrigster Umstände, trotz Hürden, trotzdem es nicht immer leicht war. Aber wann ist es das schon? Den Geburtstag als eine Art persönlichen Festtag kennt man in unseren Breiten ja noch gar nicht so lange. Bis ins 16. Jahrhundert war es den meisten Menschen unbekannt, wann sie geboren wurden, also oft auch, wie alt sie waren. Es scheint keine besondere Rolle gespielt zu haben. Das würden sich heute auch viele wünschen. Und Geburtstag gefeiert, mit Torte und so, wird in Europa überhaupt erst seit gut hundert Jahren.
Feiern ist wohl nicht nur ein kultursensibles, sondern auch stark charakterlich determiniertes Geschehen. Nicht jeder fühlt sich anlässlich eines feierlichen Anlasses in selbiger Stimmung, nicht jede*n möchte man an einer persönlichen Feierlichkeit teilhaben lassen; nicht jede*r kommt jeder Einladung nach – die eine muss terminlich disponieren, der andere empfindet keine Veranlassung… Ein Periodikum indes fragt man nicht nach seiner Neigung. Es versammelt – wie oben vorgestellt – so viele Mitwirkende unter seinem Dach, da bleibt für jeden ausreichend Spielraum, sich mitfeiern zu lassen, oder dies abzulehnen. Und sich beschenken zu lassen, gehört ja schließlich auch noch dazu. Gefeierte beschenkt man! Zum Beispiel mit Zeit. Oder mit Aufmerksamkeit. Man kann auch Materielles schenken. Wenn Sie den freigeist beschenken wollen, schenken Sie ein Abo! Wenn Sie einen Freigeist beschenken wollen, schenken Sie ihm ein freigeist-Abo!
Was man aber schon seit der Antike kennt, ist das Feiern eines Namenspatrons oder Schutzgeistes bzw. Schutzheiligen. Und mit dem Namen kommt wieder die Identität ins Spiel. Und was besagt der Name des hier gefeierten Jubilars anderes als die Freiheit im Geiste? Das freie Denken zu erlauben und zu verteidigen! Auch unkonventionelle Wege vorzustellen und sich unbeeindruckt von vorherrschenden oder herrschsüchtigen Strömungen für das einzusetzen, das dem freien Geist Nahrung und Raum gibt. Erwachsen nicht daraus oft jene Impulse, die irgendwann das Potential haben, die Welt zu verändern? Es beginnt immer alles ganz klein – auch die größte Idee. Und es ist kein Nachteil, langsam zu wachsen. All das steckt im Namen „freigeist“. Und was sind die alternativen Pfade innerhalb der Pädagogik, oder des Schulwesens anderes, als Ausdruck ebendieser Haltung innerhalb des Trägervereins, der Lernwerkstatt, und des gemeinsamen Mediums freigeist: eine Haltung, die auch einmal „nur“ eine Vision war. Eine Vision, die – wie oft beim Lebenswerk eines gefeierten Menschen – zur Wirksamkeit gelangt, indem zur Kompetenz die Konsequenz kommt, zur Stärke die Stabilität, zur Durchsetzungsfähigkeit die Disziplin. Als innere Anker. Nach außen: Verlässlichkeit, vielleicht eine Art Leuchtturm-Funktion und(!) wenn die ethische Balance gewahrt bleiben soll, unverzichtbar: Weisheit. Weisheit im ursprünglichen Sinne der Sophisten: da stehen Wissen, Herzensbildung und der Blick für das Schöne auf gleicher Stufe. Weisheit, die jedoch bekanntlich keinesfalls eine Funktion von Alter und Erfahrung ist und erst recht kein altgriechisches Phänomen. Erfahrung und Alter mögen der Ausprägung einer gewissen Weisheit zuträglich sein – eine Garantie sind sie bei weitem nicht.
Geburt. Liebe. Tod. Alles in einem Raum.
Diesen bezeichnenden Satz habe ich dem Beitrag von Franz-Josef in diesem Heft entliehen, eh normal. Es steckt nunmal sehr viel Feierliches in dieser Trilogie (im Wortsinn, Anm.): Willkommen – Hochzeit – Abschied. Mit all diesen Phasen gilt es im Leben umgehen zu lernen. Auch für den freigeist gibt es diese Phasen in wiederkehrender Abfolge. Abschiede wechseln sich ab mit Neuzugängen. Und so manches wiederholt sich immer wieder und gleicht sich dennoch so wenig, wie ein Ei dem anderen. So gab es zum Beispiel vor genau 17 Jahren schon einmal einen freigeist mit dem fast gleichlautenden Titel „feste feiern“. Ich habe einen Blick ins Archiv geworfen: es war die Nummer 7 unter der neuen Marke „freigeist“, noch der ursprüngliche Schriftzug. Ganze 23 Seiten umfasste diese Ausgabe, ebenfalls eine Winterausgabe und daher, naheliegend, auch stellenweise am Thema „Übergänge“ angelehnt – erscheint die Winterausgabe doch immer irgendwann in der Zeit, in der die Tage erst noch dunkler, aber dann schon wieder heller werden. Also zwischen Allerheiligen, Halloween, Silvester, sagen wir: Fasching, fast bis Ostern. Oder eben Samhain, die Raunächte entlang, etwa bis Imbolc. Ach ja, und natürlich ist da noch Weihnachten, das „Fest der Geburt“. Man könnte präzisieren: einer bestimmten Geburt. Aber macht das einen Unterschied? Oder will uns die Heilige Nacht nicht eben diese Botschaft vermitteln: dass es diesen Unterschied eben nicht gibt! Die „Geburt“ feierte der freigeist übrigens auch schon. Mit seiner 50. Ausgabe. Auch eine Art Jubiläum. Man könnte vorsichtig schließen, ob sich die Nr. 100 dann womöglich dem Abschied widmen könnte… ein wahrlich vager Verdacht, auch wenn ich persönlich Gefallen daran fände. Dem dann 25-jährigen freigeist würden wir auch dann noch „ad multos annos pulchros!“ zurufen. Im Wissen um die kraftvolle Symbolik der unverhandelbaren Zyklen, mit der uns die Natur in schier jeder Ausprägung, die sich uns offenbart, ganz unmissverständlich die Augen zu öffnen versucht.
Apropos Natur: Ob Tiere feiern, ist meines Wissens nicht ausreichend wissenschaftlich belegt. Indizien finden sich zwar in tradiertem Liederwerk menschlichen Ursprungs, wie z.B. der Vogelhochzeit und auch im Hinblick auf die Geburt scheinen z.B. Störche eine Rolle zu spielen. Und ja, manchen Arten sagt man nach, zumindest eine Art Abschiedszeremoniell beim Verscheiden eines Artgenossen zu vollziehen. Aber ob und wie Hunde, Flusspferde, Ameisen oder Tintenfische regelmäßige Anlässe gemeinsam mit Artgenoss*innen begehen, geschweige denn zu diesen systematisch zusammenkommen…? Dass sich Tiere sehr wohl gezielt organisieren, um gemeinsam zu jagen (Raubtiere), zu wandern (Herdentiere), zu pflegen (sog. Nützlinge), oder zu verwüsten (sog. Schädlinge) ist unbestritten. Leider bleibt es für uns Menschen wahrscheinlich unergründlich, ob sie das jeweils in einer besonders feierlichen Stimmung tun. Als Ersatz für diese natürliche Erkenntnisbarriere hat uns die Vorsehung eine Art Füllhorn an Vorstellungsmöglichkeiten ins Hirn gepflanzt, man könnte es Phantasie nennen. Und mit ihrer Hilfe lassen sich auch zum Feiern im Tierreich die fabelhaftesten Theorien entwickeln. Kindern ist diese Welt oft noch ganz barrierefrei und untheoretisch zugänglich. Sie heben diesen Schatz mit derselben Leichtigkeit, mit der sie uns oft bei einfachsten Fragen argumentativ überrumpeln. Das ist jene kindliche Weisheit, die es zu bewahren gilt. Damit das weiterhin gelingt, dafür gibt es die Lernwerkstatt!