Interview mit Monika Haider, Geschäftsführerin von Equilazent, von Reinhard Kraus.
Wenn man an „Sprache“ denkt, dann hat man sofort „reden“ und „zuhören“ im Kopf. Monika, kannst du uns sagen, was „Sprache“ für Gehörlose bedeutet? Was ist unter Gehörlosensprache oder Gebärdensprache zu verstehen?
Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, wo ganze Bilder gezeigt werden. Man könnte die Gebärdensprache auch als Bildermalen in der Luft beschreiben. Mit den Händen, mit dem Brustraum und dem Kopf hat man eine Art Gebärdenraum, wo die Sprache visuell übertragen wird. Es ist die älteste Sprache der Menschen. Bevor wir zur Lautsprache kamen, gab es schon Gebärdensprache, weil wir uns damals schon mit Handzeichen verständigt haben. Erst langsam wurden aus den Kehllauten Worte und aus den Worten Sprache. Aber in unserer Genetik ist Gebärdensprache immer noch vorhanden und das kann man relativ leicht auch wieder hervorholen.
Gebärdensprachen werden weltweit kultiviert, aber erst seit etwa 40 – 50 Jahren erforscht. Lange Zeit wurde die Gebärdensprache nicht wahrgenommen. Man hat sie als Dummensprache bezeichnet. „Taubstumm“ wurde mit „dumm“ gleich gesetzt. Deshalb sollte der Begriff „taubstumm“ für Gehörlose auch nicht verwendet werden, es ist politisch inkorrekt. Gehörlose sind zwar taub, aber nicht stumm – sie haben ihre eigene Sprache, das ist die Gebärdensprache.
Gebärdensprache wurde lange Zeit als „mit den Händen fuchteln“ abgetan und Gehörlose haben sich lange dafür geniert, im öffentlichen Raum zu gebärden.
Ist das immer noch so? Wie sieht die Situation für Gehörlose in der Gesellschaft, in den Schulen aus?
Es hat sich schon etwas geändert. Seit 2005 ist die Gebärdensprache als offizielle Sprache in der österreichischen Verfassung anerkannt und damit anderen Minderheitensprachen gleichgestellt, was sehr fortschrittlich und beispielsweise in Deutschland nicht so ist. Gebärdensprache darf damit in Schulen und Ausbildungen offiziell verwendet werden. Bei der Umsetzung auf Länderebene ist aber noch sehr wenig geschehen. Zum Beispiel gibt es in ganz Österreich nur sieben bilinguale Klassen, wo durchgängig Gebärdensprache unterrichtet wird. 70 % der Lehrkräfte, die Gehörlose unterrichten, beherrschen die Gebärdensprache gar nicht. Das heißt, es gibt nicht genug Menschen, die Gebärdensprache sprechen können in unserem Schulsystem.
1984, als ich im Gehörloseninstitut zu arbeiten begonnen habe, durften gehörlose Kinder die Gebärdensprache in der Schule nicht verwenden, sie mussten auf den >> Händen sitzen, damit sie diese nicht zum Reden benutzen konnten und mussten von den Lippen lesen lernen. Das ist vielerorts leider immer noch so. Es gibt einen langsamen Wandel, mehr junge PädagogInnen lernen die Gebärdensprache – aber ich weiß nicht, wie viele Generationen an Gehörlosen immer noch ohne Gebärdensprache gebildet werden und damit auch viel weniger Bildungswissen haben im Vergleich zu Hörenden. Es gibt viele tolle Projekte für Gehörlose, aber die fangen alle erst nach der Schule an. In der Schule ist die Situation noch eine ganz schlechte.
Wie sieht es in den Familien aus? Wie gehen Eltern mit gehörlosen Kindern um? Welche Unterstützung gibt es hier?
90 % der gehörlosen Kinder werden in hörende Familien geboren. Da wird ein gehörloses Kind in der Regel als Schock, als Behinderung, wahrgenommen. Der Arzt, der die „Behinderung“ feststellt, wird die Eltern über eine neue Technik, über das Cochlea-Implantat aufklären. Er wird sagen, dass damit die Wahrscheinlichkeit von 50 % besteht, dass das Kind hören wird. Bei dieser nicht einfachen Operation wird dem Säugling ein Chip eingesetzt, der über den Knochen die Töne ins Gehirn übertragen kann. Dieser Chip muss dann immer wieder erneuert, d. h. die Operationen am Gehirn immer wieder gemacht werden, wobei aber auch Abwehrreaktionen auftreten können. Die Eltern haben also diese Variante oder sie geben das Kind in einen speziellen Kindergarten für Gehörlose. In diesen Einrichtungen heißt es dann in der Regel, Spracherwerb – also Lautspracherwerb – ist wichtig für die gehörlosen Kinder, sie müssen reden, reden, reden, damit Wissenserwerb stattfinden kann – ein völlig veralteter Zugang aus den 1960er oder 1970er Jahren.
Dabei wird z. B. ein Glas gezeigt und versucht dem Kind beizubringen, wie man das Wort Glas ausspricht. Das dauert etwa eine Stunde. In der gleichen Zeit lernen hörende Kinder, dass es sich bei dem Glas um ein Viertelliter-Glas handelt, dass es durchsichtig ist, dass Wasser drinnen ist, es relativ schwer ist, dass es auch leichtere Gläser gibt, es kleinere Gläser gibt und und und… Das hörende Kind bekommt ganz viele Zusatzinformationen, so dass sich viele Synapsen im Gehirn bilden können. Das gehörlose Kind hat nur das Wort Glas auszusprechen gelernt. Wenn du ein anderes Glas hinstellst, kann man nicht sicher sein, ob es das Glas mit dem Wort assoziiert hat, ob es diese Verbindung überhaupt hergestellt hat.
So kommt es, dass gehörlose Kinder bis zum Schulanfang durchschnittlich nur etwa 300 Wörter beherrschen, die sie auswendig gelernt haben. Hörende Kinder haben dagegen einen Wortschatz von mindestens 7.000 Wörtern. Was ein enormes Problem darstellt, denn dadurch kommt es später oft dazu, dass gehörlose Kinder nicht sinnerfasst lesen können. Und damit oft nicht einmal die Schlagzeilen einer Zeitung verstehen können.
Ganz schlimm ist auch, dass gehörlose Kinder mit ihren Eltern oder Geschwistern oft gar nicht richtig kommunizieren können. Der Mensch wird ja in der sozialen Auseinandersetzung geprägt, in der Begegnung mit anderen Menschen. Wenn man sich nicht mitteilen kann, die Sorgen nicht teilen kann, dann vereinsamt man innerlich, es kommt zu einer sozialen Isolation. Die Kinder erlernen soziale Regeln oft nicht, weil sie diese gar nicht verstehen können. Gehörlose Kinder werden in der Regel als sozial inkompetent abgestempelt, auch als erwachsene Menschen, weil sie nie diese sozialen Regeln gelernt haben. Manche junge Eltern setzen sich jetzt mehr mit der Thematik auseinander und erlernen gemeinsam mit dem Kind die Gebärdensprache.
Wir bieten einigen Gehörlosen gerade eine Zusatzausbildung als FamilienhelferInnen. In Wien haben gehörlose Kinder den Behindertenstatus und damit hat die Familie das Anrecht, eine Familienhilfe zu beantragen. Somit kann eine Familienhelferin bis zum 18. Lebensjahr eines Kindes in die Familie kommen. Und die Idee ist, dass das dann eine gehörlose Person ist, da hörende Eltern oft nicht wissen, wie sie mit den gehörlosen Kindern umgehen sollen. Wenn sie dann sehen, dass eine erwachsene Gehörlose mit Gebärdensprache eine Ausbildung hat, dann ist das die beste Ebene, die Gebärdensprache in die Familien zu bekommen.
Nachdem es in der Pädagogik so wenig Menschen gibt, die Gebärdensprache sprechen können, haben wir das Ziel, so viele gehörlose Menschen wie möglich auf allen pädagogischen Ebenen auszubilden. Wir haben sechs gehörlose KindergartenpädagogInnen ausgebildet, die in Kindergärten in Wien verteilt arbeiten. Wir bilden gerade gehörlose FreizeitpädagogInnen aus, die dann in der Nachmittagsbetreuung oder in Schulen tätig sein werden. Und es gibt jetzt fünf gehörlose Volksschullehrerinnen und zwei Lehrerinnen für die Sekundarstufe. Wir hoffen, dass wir es schaffen, dass gehörlose Kinder immer auch gehörlose Vorbilder also role models haben.
Bei jedem neuen Beruf, den wir für Gehörlose öffnen, müssen wir aber auch viel in den Köpfen der Beamten in den Behörden oder in den Schulen verändern. So haben viele Gehörlose immer wieder gesagt bekommen: „Du kannst das nicht machen, du bist ja gehörlos! Du kannst nicht Familienhelferin werden, du kannst dich ja mit der Familie nicht verständigen! Du kannst nicht Kindergärtnerin werden, du kannst ja nicht singen!“
Mit diesen Ausbildungen haben wir erwirkt, dass hörende Eltern nicht mehr die Sorge haben müssen, was aus ihren Kindern wird, sondern sehen können, dass es verschiedene role models gibt, dass mit Gebärdensprache alles ausgedrückt werden kann.
Monika, mit wir meinst du Equilazent, was ist das für eine Organisation?
Equalizent ist ein Qualifikationszentrum für Gehörlose, Gebärdensprache und Diversitymanagement. Das habe ich vor 16 Jahren gegründet. Ich war damals in einem großen Schulungsunternehmen tätig, in dem es eine Fachabteilung für gehörlose Menschen gab. Und obwohl alles „inklusiv“ gestaltet wurde, gab es große Probleme. Der Umgang mit Gehörlosen war im Gedanken wie vor 100 Jahren. Ich wollte deshalb ein eigenes Kompetenzzentrum gründen, in dem das ganze Wissen zum Thema gebündelt und zusammentragen wird. Die Gebärde für Equalizent besteht übrigens aus der Gebärde für Qualität und der für „hochziehen“, also die Qualität soll hochgezogen werden.
Welche aktuellen Projekte laufen gerade bei Equalizent?
Egal, wo man hinsieht, überall gibt es Mankos. Zum Beispiel bei den Unterrichtsmaterialien. Es gibt viele Bücher mit Schriftsprache, die aber für viele Gehörlose schwierig zu erlernen ist. Jetzt gibt es neue Technologien, man kann vieles auf Video machen. Wir sind gerade dabei, entsprechende Materialien zu digitalisieren. Wir haben Spiele entwickelt, ein 3D-Memory, wir haben ein Sprach-Quiz, wo man Gebärdensprach-Videos einfügen kann. Sprache ist ja das größte Problem und wir wollen Sprachwissen auffrischen. Wir sind also sehr stark digital in unserer Entwicklung. Gerade sind wir dabei Aufklärungsmaterial zu machen. Es gibt kein einziges Aufklärungsbuch in Gebärdensprache, weltweit nicht. Vor fünf Jahren haben wir uns mit der Suchtproblematik beschäftigt. Soziale Isolation fördert ja die Suchtproblematik.
Wir öffnen jährlich neue Berufsfelder. Wir schauen, was wäre demographisch günstig, um einen Job zu bekommen? Und was wäre auch politisch günstig? Wir haben die Krankenpflege geöffnet, die Kindergartenpädagogik, wir haben die Massage geöffnet, wir haben Heimhilfe, Animation. Wir schauen immer, was passt und wollen die Welt für die Gehörlosen öffnen, Zugänge schaffen.
Wir sind in sieben EU-Projekten engagiert. Wir sind europäisch einzigartig. Viele wollen mit uns zusammenarbeiten, um in ihren Ländern etwas für Gehörlose zu entwickeln. Wir haben deshalb ein „social franchising“ entwickelt, weil wir festgestellt haben, dass es nicht reicht, wenn man jemanden nur kurz und punktuell berät. Wir haben so viele Sachen entwickelt, die wir in eine Box geben können, z. B. eine Box für die Ausbildung von gehörlosen TrainerInnen oder eine Box für alle unsere Kurse, mit Konzepten und Inhalten und alle Materialien dazu, inkl. Spiele, so dass man damit weggehen und sagen kann, ich mach jetzt den Kurs z. B. in Hannover. Dazu gibt es auch noch alles in Webinar-Form und auch den Businessplan fürs Management. Mit dem social franchising wollen wir sicherstellen, dass die Qualität erhalten bleibt. Wir >>
wollen damit möglich machen, dass überall Unternehmen mit Bildung für Gehörlose aufgebaut werden können.
Gebärdensprache ist ja, so wie andere Sprachen auch, länderspezifisch. Gibt es eine internationale Gebärdensprache, so wie Englisch für die Hörenden? Was machen Gehörlose im Ausland?
Es gibt „international sign“, aber es heißt nicht „international sign language“. „International sign“ ist eine Konferenzsprache, meist mit englischem Mundbild, in einfachen Gebärden, die am Anfang der Konferenz mit den DolmetscherInnen abgestimmt werden. Damit kann man sich weltweit ganz gut verständigen.
Gebärdensprache wird eingeteilt in transparente Gebärden, halbtransparente und abstrakte Gebärden. Transparente Gebärden, also etwa ein Drittel, werden in der ganzen Welt ganz gut verstanden. Das sind Gebärden wie „essen“, „trinken“, „schlafen“, die man in jedes Spiel einbauen könnte und die man leicht verstehen würde. Bei „international sign“ verwendet man diese einfachen Gebärden und versucht auch die abstrakten Gebärden in einfacheren Bildern zu zeigen. Aber es ist noch keine eigene Sprache, wird es aber immer mehr.
Es gibt „Hands up“, eine Ausstellung in Wien, über die Welt der Gehörlosigkeit. Kannst du etwas darüber erzählen?
„Hands up“ ist eine Ausstellung, in der das Thema auf lustvolle Art und Weise gezeigt wird, wo Menschen in die Welt der Stille eintauchen können. Es gibt gehörlose Guides, also ExpertInnen ihrer Sprache, mit denen man sich etwa eine Stunde lang blendend unterhalten kann. Es ist alles sehr gut aufbereitet. Man geht in ein Wohnzimmer und erfährt, wie Gehörlose leben. Es gibt auch einen Raum, wo man dann mit mindestens 30 Gebärden rausgeht, die man wieder entdeckt hat in sich. Man lernt sehr viel über sich selbst und natürlich über den Umgang mit gehörlosen Menschen. Welche Barrieren es im Alltag gibt. Man erfährt etwas über die Geschichte der Gehörlosigkeit, über berühmte gehörlose Personen, bis hin zur Poesie. Es gibt Poetrie-Slam, am Ende lernt man sogar Musikgebärden. Es braucht ja immer Begegnungen, Erfahrungen, um Fremdes annehmen zu können. Es passiert dabei sehr viel Sensibilisierung. Wir haben nur positive Rückmeldungen, wie wichtig es ist, mit einer gehörlosen Person durchzugehen.
Mit Corona ist die Ausstellung leider geschlossen worden. Das ist insofern tragisch für uns, weil die Ausstellung jetzt nach eineinhalb Jahren sehr gut angelaufen ist. Es war gar nicht so leicht, das zu finanzieren. Wir haben hohe Personalkosten. Die Guides werden bei uns gut bezahlt. Es war ein schwieriges Unterfangen, das umzusetzen. Wir könnten die Ausstellung zwar bald wieder eröffnen, aber die Schulen dürfen nicht kommen. Wir haben ca. 600 Absagen in den letzten Wochen bekommen, alles Schulen, die schon gebucht hatten. Wenn ich keine Unterstützung auftreiben kann, weiß ich nicht, ob ich die Ausstellung je wieder weiter führen kann.
Wie werden Emotionen in Gebärdensprache ausgedrückt? Gibt es eine eigene Gebärden-Kunst? Was bedeutet Musik für Gehörlose?
Gebärdensprache ist eine sehr körperbetonte, emotionsgeladene Sprache, wo man sofort sieht, wie es jemanden geht, also Emotionen werden sehr direkt ausgedrückt. Es gibt aber auch Poesie. Prinzipiell werden dabei spezielle Gebärdenbilder gezeigt. Beim Poetrie-Slam entwickelt sich etwa ein Bild ins andere. Man kann das vielleicht mit Schüttelbildern vergleichen. Man schüttelt und es wird daraus ein Berg, man schüttelt wieder und es ist etwas anderes. So entwickeln sich die Hände in Poesie-Bildern. Auch in der Literatur haben wir z. B. Zusammenfassungen, Übersetzungen von Büchern oder eigenständige Bilder entwickelt. Wir haben weltweit erstmals Weltliteratur in Gebärdensprache übersetzt. Bei der Musik spielt der Rhythmus eine entscheidende Rolle. In der Ausstellung wird z. B. das Lied „Hands up, Baby, hands up“ in Gebärdensprache verwendet. Jeder Besucher kann dann zumindest den Refrain gebärden. Man hört dabei nichts, aber es gibt ein Vibrationsbrett, mit dem man den Rhythmus mitnimmt, so wie ihn auch Gehörlose wahrnehmen. Und über einen Avatar wird man angeleitet, die Musik in Gebärden darzustellen. Auch beim österreichischen Eurovisions-Song-Contest wurden alle Lied-Beiträge in Musikgebärden gezeigt. Es gibt auch eigene Gebärdensongs und sogar eigene Gebärdenwitze. Aber die sind für Hörende meistens nicht so witzig. Der einzige Witz in Gebärdensprache, denn ich lustig finde, geht so: „Zwei Gehörlose fahren mit dem Auto zu einem Fest. Vor dem Haus fragt der eine, in welcher Wohnung denn die Party stattfindet. Da drückt der andere auf die Hupe und überall gehen die Fenster auf und Leute schauen auf die Straße, nur in der Wohnung im obersten Stock nicht. Sagt der andere, da oben, siehst du? …“
Danke für das Gespräch.