Mit dem anschließenden Artikel „Die Entdeckung der Kindheit“ startet der Freigeist eine neue Rubrik unter dem Titel „Reformpädagogische Impulse“. Aufmerksame LeserInnen werden sich jetzt vielleicht denken: das kommt mir irgendwie bekannt vor! Stimmt – denn vor einigen Jahren sind unter der gleichlautenden Rubrik zahlreiche Portraits meist unbekannter ReformpädagogInnen erschienen. Weshalb also diese Neuauflage?
Zum einen folgten die damaligen Portraits keiner zeitlich korrekten Abfolge, zum anderen waren sie nicht eingebettet in größere geschichtliche Zusammenhänge. Dem soll nun, ergänzt durch viele neue Portraits, abgeholfen werden. Starten wir also mit dem folgenden Artikel „eine kleine Reise durch die Geschichte der Reformpädagogik“. Wo aber beginnen? Am besten dort, wo alles seinen Anfang nahm:
Was wir heute „Kindheit“ nennen, hat es nicht immer gegeben. Im Mittelalter wie auch noch viele Jahrhunderte danach lebten Kinder, sobald sie sich alleine fortbewegen und verständlich machen konnten, mit den Erwachsenen und wurden auch als kleine Erwachsene betrachtet. In seiner nun schon in 17. Auflage erschienenen „Geschichte der Kindheit“ erzählt der Kulturhistoriker Philippe Ariès anhand einer Fülle historischen Materials vom über Jahrhunderte dauernden Wandel dessen, was uns heute selbstverständlich als eigenständiger Abschnitt in der Entwicklung hin zum Erwachsenwerden erscheint.
Für viele Jahrhunderte aber galt:
„Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, das heißt auf die Periode, wo das kleine Kind nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit und ihre Spiele. … Es lernte die Dinge, die es wissen musste, indem es den Erwachsenen bei ihrer Verrichtung half. … Immerhin konnte das Kind in den allerersten Jahren, wenn es noch ein kleines drolliges Ding war, auf eine oberflächliche Gefühlszuwendung rechnen, die ich `Gehätschel´ genannt habe. … Wenn es dann starb, was häufig vorkam, mochte dies den einen oder anderen betrüben, doch in der Regel machte man nicht viel Aufhebens: ein anderes Kind würde bald seine Stelle einnehmen. Aus einer gewissen Anonymität gelangte es nie heraus.“ ¹
Vieles, wovon Ariès uns erzählt, befremdet uns heute: Wie Kinder weit über das Mittelalter hinaus auf Kunstwerken abgebildet wurden (mit der Physio-gnomie Erwachsener), wie sie gekleidet wurden, wie man sich ihrer oft ungeniert „entledigte“ – entweder in heillos überfüllte Waisenhäuser oder durch den bis zum Ende des 17. Jahrhunderts häufig praktizierten Kindesmord. Kindesmord war zwar ein Verbrechen, wurde aber in den meisten Fällen als Unfall getarnt: die Kinder starben im Bett der Eltern, in dem auch sie schliefen, eines „natürlichen“ Erstickungstodes. Einhergehen konnten solche Praktiken nur mit einem Bild vom Kleinkind als noch nicht vollwertigen Menschen. Auch dass Kinder in Findel- oder Waisenhäuser abgegeben wurden, war nicht nur, wie man vielleicht annehmen könnte, ärmlichen Verhältnissen oder der Angst der Eltern geschuldet, nicht alle Kinder ausreichend ernähren zu können – es entsprach einfach einer damals nicht unüblichen Praxis.
Selbst Rousseau, der mit seinem Erziehungsroman „Emile oder Über die Erziehung“ später Generationen von Pädagoginnen und Pädagogen zu einer neuen Sichtweise Kindheit betreffend inspirieren wird, gab seine Kinder im Waisenhaus ab, wissend darum, wie gering die Lebenserwartung der Kinder aufgrund der katastrophalen Verhältnisse in den Findelhäusern war – selbst 1755, als er finanziell schon ein gutes Auslangen fand, noch sein fünftes Kind. In seinem gegen Lebensende hin verfassten Werk „Die Bekenntnisse“ („Les Confessions“) kann man lesen, er habe bei der Preisgabe seiner Kinder nicht die leisesten Gewissensbisse empfunden und nicht die Unnatürlichkeit seiner Handlungsweise erkannt, die, wie er behauptet, in jener Zeit und Gesellschaft gang und gäbe war. Um an dieser Stelle noch einmal Ariés zu zitieren:
„Wenn es dem kleinen Kind überhaupt gelang, die ersten Gefahren zu überstehen, mit denen es in der Hätschelperiode zu kämpfen hatte, dann geschah es nicht selten, dass die Familie es weggab. Diese Familie setzte sich zusammen aus dem Elternpaar und den Kindern, die es bei sich behielt.“ ¹
Wann aber begann sich das „Bild vom Kinde“ zu wandeln?
Im 18. wie auch 19. Jahrhundert kam es zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen: Zum einen trennte die aufkommende Schulpflicht das Kind nun von der Welt der Erwachsenen, zum anderen kam es – vor allem im aufstrebenden Bürgertum – zu einer Neuorganisation des privaten Raumes: Fand früher ein Großteil des Lebens auf den Straßen und Plätzen oder unter den Lauben (als erweiterter Verkaufs- wie Wohnraum) und eingebettet in ein reges Gemeinschaftsleben statt, kam es zu einem „Rückzug der Familie ins Innere eines Hauses, das für die Intimität besser gerüstet war.“ ¹ Ariès meint, es war nur natürlich, dass sich in einem solchermaßen privatisierten Raum zwischen den Familienmitgliedern und insbesondere zwischen Mutter und Kind ein neues Gefühl entwickelte: das Familiengefühl. Eines seiner Merkmale war ein erwachendes Interesse für die Kindererziehung. Gekoppelt mit der aufkommenden Schulpflicht beginnen Eltern, „sich für die Studien ihrer Kinder zu interessieren und verfolgen diese mit Aufmerksamkeit. … Die Familie beginnt also, sich um das Kind herum zu organisieren, ihm soviel Bedeutung beizumessen, dass es aus seiner einstigen Anonymität heraustritt.“ ¹
Hand in Hand gingen diese Veränderungen mit den Gedanken und Schriften der Aufklärung, die sich seit dem 18. Jahrhundert über Europa ausbreiteten, wie beispielsweise Rousseaus eingangs schon erwähnter Erziehungsroman „Emile“. Als theoretisches Konstrukt ohne Praxisbezug entstanden, findet es Anklang bei vielen Praktikern: Johann Heinrich Pestalozzi wird in einer anfänglichen Verehrung für Jean-Jacques Rousseau seinen Sohn Hans Jakob nennen und mit seinen Heim- und Schul-Projekten versuchen, dem Rätsel „Kindheit“ näher zu kommen, das Rousseau zu Beginn seines Romanes folgendermaßen beschreibt:
„Die Kindheit ist etwas uns vollkommen Unbekanntes – mit den falschen Vorstellungen, die wir davon haben, gehen wir mehr und mehr in die Irre. Die vernünftigsten Leute halten sich an das, was der Mensch wissen muss, ohne zu überlegen, was zu lernen die Kinder imstande sind. Immer suchen sie im Kind den Erwachsenen, ohne zu bedenken, was ein Kind vorher ist.“ ²
„Herz, Hand und Kopf“
Der Frage, was ein Kind ist und was dessen Bedürfnisse wie Fähigkeiten sind, wird Pestalozzi erst gemeinsam mit seiner Frau Anna und 40 ihnen anvertrauten Kindern in der auf Gut Neudorf untergebrachten „Erziehungsanstalt für arme Kinder“ nachgehen. 1799 wird er für kurze Zeit das Waisen- und Armenhaus in Stans führen und die dort gemachten Erfahrungen in seinem bekannten „Stanser Brief“ an einen Freund – vermutlich der Buchhändler Heinrich Geßner – festhalten:
„Außer einer Haushälterin allein, ohne Gehülfen, weder für den Unterricht der Kinder, noch für ihre häusliche Besorgung, trat ich unter die Kinder und eröffnete meine Anstalt. … Diese wuchs immer an, so dass ich 1799 bei achtzig Kinder hatte. Die meisten dieser Kinder hatten gute und einige ausgezeichnete Anlagen. Das Lernen war ihnen meistens ganz neu, und sobald einige sahen, dass sie es zu etwas bringen, so ward ihr Eifer unermüdet. … Sie gaben mir selbst nach dem Nachtessen, insonderheit im Anfang, wenn ich sie fragte: Kinder, wollt ihr jetzt lieber schlafen oder lernen? gewöhnlich zur Antwort: lernen.“ ³
In vielerlei Hinsicht betrat Pestalozzi Neuland, tastete sich von Erfahrung zu Erfahrung vor, entwickelte eigene Unterrichtsmethoden (im Lernen fortgeschrittene Kinder gaben ihr Wissen an jüngere Kinder weiter) sowie Formen des Zusammenlebens und -arbeitens, stets aber mit einer ganz anderen als bis zu diesem Zeitpunkt üblichen Fürsorge Kindern gegenüber:
„Ich kannte keine Ordnung, keine Methode, keine Kunst, die nicht auf den einfachen Folgen der Überzeugung meiner Liebe gegen meine Kinder ruhen sollten. Ich wollte keine kennen.“ ³
Seine Erfahrungen auf Gut Neuhof und in Stans wird Pestalozzi in seinen späteren Instituten in Burgdorf (1800 – 1804) und Yverdon/Iferten (1804 – 1825) systematisch erweitern. Noten und Zeugnisse ließ er bewusst nicht zu und vertrat einen >> ganzheitlichen Ansatz, der darauf abzielte, die sittlich-religiösen, handwerklichen und intellektuellen Kräfte („Herz, Hand und Kopf“) der Kinder allseitig und harmonisch zu fördern. Wichtig war ihm, ein sicheres Fundament an Elementarbildung zu legen, das die Kinder dazu befähigte, sich selbst zu helfen.
Eine „Erziehung vom Kinde aus“
Mit seinen Büchern, in denen er seine Erfahrungen niederschrieb – beispielsweise „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ – erreichte und inspirierte er unzählige Eltern, Pädagogen und Pädagoginnen. Viele seiner Mitarbeiter am Erziehungsinstitut in Yverdon trugen seine Gedanken in die Welt hinaus oder entwickelten sie dort weiter: Der Pädagoge Johannes Ramsauer verbreitete Pestalozzis Ideen in Oldenburg, Georg Franz Hofmann gründete Pestalozzi-Schulen in Neapel und Budapest.
Friedrich Fröbel – er lebte von 1808 bis 1810 in Pestalozzis Institut – entwickelte dessen Elementarmethode insofern weiter, dass er der frühen Kindheit besondere Bedeutung zukommen ließ. Um die Realisierung seiner Erkenntnisse voranzutreiben – er stellte das Spiel als typische kindliche Lebensform sowie dessen Bildungswert ins Zentum seiner Pädagogik – gründete Fröbel gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Wilhelm Middendorf und Heinrich Langethal 1840 in Bad Blankenburg den ersten „Allgemeinen deutschen Kindergarten“. Weitere folgten schnell, sodass schon 1842 die ersten Kindergärtnerinnenkurse stattfanden.
Eine von Fröbels Schülerinnen, Margarethe Schurz, gründete 1856 in Watertown, Wisconsin, den ersten Kindergarten in den USA, der Journalist und Pädagoge Adolph Douai 1859 in Boston und ab 1866 in New York Kindergärten sowie Schulen nach Fröbels pädagogischen Leitlinien. Leo Tolstoj unternahm seine zweite Reise nach Westeuropa (von 1860 – 61) mit der Absicht, möglichst viel über neue Erziehungsmethoden in Erfahrung zu bringen. Über Deutschland (wo er in Berlin den Sohn des Pädagogen Adolph Diesterweg und in Kissingen Friedrich Fröbels Neffen Julius Fröbel traf), Frankreich, Italien, England und Belgien kam er am Ende seiner Reise in Weimar an, um dort das Fröbelsche System genauer zu studieren. Enttäuscht von den in diesen Ländern besichtigten kirchlichen wie staatlichen Schulen oder Einrichtungen der Erwachsenenbildung, aber inspiriert von den Schulreformern, machte er sich auf den Rückweg nach Russland, um dort dann neben seiner schon bestehenden Schule in Jasnaja Poljana 14 weitere freie Schulen für Bauernkinder zu gründen. Die Entdeckung der Kindheit „gewinnt an Fahrt“ …
Über die „Allgemeine Schulpflicht“
Dieses nun stetig sich ausbreitende Netzwerk einer „Erziehung vom Kinde aus“ war jedoch noch ein sehr zartes und grobmaschiges.
Zum einen gilt es, darauf hinzuweisen, dass die im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa eingeführte allgemeine Schulpflicht – 1763 als „Generallandschulreglement“ durch Friedrich II in Preußen und im Dezember 1774 als „Allgemeine Schulordnung“ durch Maria Theresia für Österreich und die Kronländer der Monarchie – hinsichtlich der Akzeptanz durch die Bevölkerung nicht den erwünschten Zuspruch fand und viele Familien die Aufforderung zur Schulpflicht ihrer Kinder nicht gar so ernst nahmen:
„Schätzungen zufolge besuchte nur etwa die Hälfte der schulpflichtigen Kinder im Schuljahr 1848/49 überhaupt eine Schule und die Mehrzahl davon auch nur sporadisch, da sich viele Familien nicht leisten konnten, auf die Arbeitskraft ihrer Kinder bzw. das Zusatzeinkommen, das diese als Gehilfen oder in Fabriken erwirtschafteten, zu verzichten.“ (4)
Zum anderen – und das erklärt auch, weshalb sich der Lernerfolg eines Großteils der Kinder, abgesehen vom unregelmäßigen Schulbesuch, in Grenzen hielt – fand der „Unterricht“ unter heute kaum vorstellbaren Bedingungen statt: nicht selten nahmen über hundert Kinder unterschiedlichen Alters am Unterricht teil. Durch das in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1869 erlassene „Reichsvolksschulgesetz“ wurde die Schülerzahl auf 80 pro Klassenlehrer begrenzt – jedoch schon 1883 per Gesetzesnovelle wieder auf 100 angehoben! Kein Wunder also, dass nach den verpflichtenden Volksschuljahren nur ein kleiner Teil der SchülerInnen den Übertritt in höhere Schulen schaffte, während die meisten SchulabgängerInnen mit rudimentären Lese- und Schreibkenntnissen und einer oft nur vagen Idee von den Grundrechnungsarten das Auslangen finden musste. Kein Wunder auch, dass unter solchen Bedingungen „Ratgeber“ wie jenes 1846 erschienene Buch des Wiener Lehrers Peter Bleich gerne weitergereicht wurden – Titel: „Nur Ruhe! oder 300 einfache Mittel, die Ruhe in der Schule zu erhalten. Ein Noth- und Hülfsbüchlein für angehende Schulmänner“.
Fröbels Ansinnen, „dass jeder Mensch nach ewigem Gesetze, mit Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstwahl aus sich hervortrete“ und einzig dies „die Aufgabe und das Ziel aller Erziehung, Lehre, Unterrichts sei“ (4) musste ihm, Fröbel, nach der oben beschriebenen und ihn umgebenden Schulrealität wahrscheinlich selbst wie eine Utopie in weiter Ferne erschienen sein.
Dennoch haben sich er wie auch unzählige Menschen nach ihm auf den Weg gemacht, die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder zu ergründen und Lebens- oder Lernorte zu schaffen, die diesen Bedürfnissen gerecht werden.
Von solchen Menschen soll in den kommenden Artikeln nun die Rede sein – und in der nächsten Ausgabe die ersten Schulprojekte libertärer und anarchistischer Pädagogen im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt gestellt werden; mit einem ausführlichen Portrait über Leo Tolstoj und seine Schule in Jasnaja Poljana.