„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Friedrich Schiller
„Oder?“
Franz Josef Gaugg
Der Spielplatz meiner Kindheit und Jugend lässt sich schwer eingrenzen. Er war ein Freiraum in doppeltem Sinn. Einerseits war er durch meine Eltern nicht kontrolliert. Sie wussten nicht oder nur sehr grob, wo ich mich mit meinen Freunden aufhielt. Andererseits wurden unsere Räume auch von außen eher wenig begrenzt: der Spielplatz begann in unserem Kinderzimmer und endete vor dem Klassenzimmer. Was dazwischen lag, war Spielplatz: wir spannten eine Schnur über die Siedlungsstraße von Gartenzaun zu Gartenzaun, um Tennis zu spielen. Kam ein Auto, so nahmen wir die Schnur einfach ab, ließen passieren, danach machten wir weiter. Das Einfahrtstor des Gartenzaunes war auch ein Fußballtor, die Straße das Fußballfeld, wie die brach liegende Wiese ein paar Häuser weiter oder die Ausläufer der Kastanienallee in der Nähe. Im Wald nebenan unternahmen wir Streifzüge, errichteten Baumhäuser aus Brettern, die wir heranschleppten. Die Waldwege benutzen wir als Fahrradrennstrecken und bezeichneten die eine oder andere Strecke als „Todesbahn“, die dann einer der Waghalsigen in mehr oder minder wildem Ritt zum Staunen der Übrigen befuhr. Unsere Fahrräder veränderten sich im Eigenbau binnen kurzer Zeit: Lenkstangen und Sattel wurden laufend ausgewechselt, die Fahrräder umlackiert. Manchmal, einfach um Lärm zu erzeugen, wurden Spielkarten am Fahrradrahmen befestigt und diese klapperten sodann an den Speichen. Das Schilf des zugefrorenen Winterteiches wurde beseitigt, um Eishockey spielen zu können. Am winterlichen Schulweg wurden schneebedeckte, eisige Geländesprünge spontan zum „Sackrusseln“ verwendet. Sackrusseln? Man setzt sich auf einen Plastiksack, der vorsorglich in der Schultasche verstaut worden ist, und rutscht damit über den Schneehang. Das Gefälle der Zufahrtsstraßen in der Siedlung konnte gar nicht gering genug sein, um im Winter nicht zur Schi- oder Rodelpiste umfunktioniert zu werden – zumindest so lang, bis Sand gestreut wurde. Ich kann mich an keine Beschwerde oder Besitzstörungsklage anrainender Bauern oder Grundstücksbesitzer erinnern. Wie gesagt, unsere Räume wurden wenig beschränkt.
Ich möchte Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, mitnichten mit meinen Erinnerungen langweilen. Aber ich möchte illustrieren, wie weit mein Spielplatz reichte. Alles war Spielplatz!
Abgesehen davon, dass die Verhältnisse der 1980er Jahre mit den heutigen schwer vergleichbar sind, sind auch die siedlungsräumlichen Voraussetzungen im Speckgürtel einer mittelgroßen österreichischen Bezirksstadt nicht mit den innerstädtischen Lagen größerer Städte oder gar einer Großstadt zu vergleichen. Hier ist es notwendig, raumplanerisch für die notwendigen Freiräume zu sorgen. Was dort an Naturräumen zur Verfügung steht – wie Wald und Wiese, Bach und Teich – muss hier von der Stadtplanung in Form von Parks, Spielplätzen und Flanierstraßen erst geschaffen werden.
In Österreich müssen Spielplätze von Gesetzes wegen errichtet werden. Die notwendigen Freiräume im und um das Siedlungsgebiet werden durch das Raumordnungsgesetz sichergestellt. Im Baurecht, das in Österreich Sache des jeweiligen Bundeslandes ist, wird die Errichtung von Spielplätzen vorgeschrieben. So sind nicht nur Gemeinden verpflichtet, Spielplätze zu errichten, sogenannte öffentliche Spielplätze, sondern ebenso Schulen und Kindergärten sowie Errichter von Wohnanlagen: in Niederösterreich muss – ab einer Größe von 10 Wohneinheiten beginnend – ein Spielplatz errichtet werden, dessen Mindestgröße von der Anzahl der Wohneinheiten bestimmt wird. Letztere sind private Spielplätze. Darüber hinaus gibt es auch freiwillig errichtete Spielanlagen in Hotels, Einkaufszentren, Autobahnraststätten, etc.
Auf der Website stellt das Land Niederösterreich die Broschüre „Spielen? Aber sicher!“ zur Verfügung. Darin wird der rechtliche und sicherheitstechnische Rahmen von Spielplätzen und Spielflächen auf Basis der geltenden europäischen Norm dargestellt. Dieser Rahmen ist es, der die Gestaltung unserer Spielanlagen letztlich definiert.
Wie betrachtet „Spielen? Aber sicher!“, hier kurz skizziert, unsere Spielplätze und Spielanlagen? Neben dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) gilt das Produkthaftungsgesetz. Aus dem ABGB leiten sich Haftungsrisiken und eine damit verbundene Schadenersatzpflicht für Betreiber und Erhalter von Spielplätzen sowie Hersteller von Spielgeräten ab. Als „häufigste Haftungsgrundlage“ wird in der Broschüre die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht angeführt. Denn. Der Betreiber eröffnet mit der Errichtung und dem Betrieb eines Spielplatzes den Verkehr und ist somit für die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer – damit sind die ebendort spielenden Kinder gemeint! – verantwortlich. Damit einhergehend ist der Betreiber verpflichtet, für die gefahrlose Benützung der Anlage zu sorgen: er untersteht der Sorgfaltspflicht. Verletzt der Betreiber seine Sorgfaltspflicht, indem z.B. erkennbare Gebrechen am Spielgerät nicht behoben werden und erleidet dadurch ein Benützer des Spielplatzes, ein Verkehrsteilnehmer also, einen Schaden, so entsteht Schadenersatzpflicht – die zerrissene Kleidung oder die Behandlungskosten seines Unfalls sind dann durch den Betreiber zu ersetzen. Letztlich drohen dem Betreiber bei unterlassener Sorgfaltspflicht und entsprechendem Unfallgeschehen neben zivil- auch strafrechtliche Konsequenzen wegen fahrlässiger Körperverletzung.
Die Einhaltung von Normen bietet für den Betreiber und Erhalter von Spielplätzen eine gewisse Rechtssicherheit, um etwaigen Schadenersatzforderungen und Haftungsrisiken vorzubeugen. Neben dem geeigneten Standort und der notwendigen Größe von Spielplätzen findet der Planer oder Betreiber in der Broschüre Hinweise für die erforderlichen Schutzabstände zwischen den Geräten, die Vermeidung problematischer Überlagerungen von Aktiv- und Ruhezonen, die Grenzen von Fallhöhen, Absturzkanten, die Ausbildung des geeigneten Fallschutzes, die Sprossenhöhen von Leitern, die Wassertiefen bei der Anlage von Wasserbassins unter Berücksichtigung des Verlaufes der Uferzone, die Höhe und Erfordernis von Einfriedungen und vieles andere mehr.
Einen Punkt der Broschüre „Spielen? Aber sicher!“ möchte ich herausgreifen: Bäume. In der Broschüre wird auf die notwendige Naturerfahrung von Kindern, die durch entsprechende „naturnahe“ (sic!) Gestaltung der Spielplätze sichergestellt werden soll, hingewiesen. Sodann wird gezeigt, wie Bäume sicherheitstechnisch zurechtgestutzt werden sollen – um die Haftungsrisiken hintanzuhalten. Das Ganze sieht dann so aus, dass ein Baumstamm am Boden herumliegt, der maximal 60cm hoch sein darf – Absturzgefahr! – und die Äste mindestens 60cm hoch sein müssen – Stolpergefahr! – allerdings sind spitze Äste zu entfernen – Verletzungsgefahr! – und die verbleibenden Stummel abzurunden. Bei lebenden Bäumen sollen bis 2.50m Höhe die Astreihen entfernt werden, um ein Hinaufklettern zu unterbinden – >> denn es könnte ja jemand herunterfallen und der Betreiber dann belangt werden. Bezüglich der Errichtung von Baumhäusern meinen die Autoren der Broschüre: „Baumhäuser im landläufigen Sinn, nämlich als Bretterverschlag in einer Astgabel, sind aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Da Bäume weder in Höhe noch in Wuchsart (spitze Winkel!) normierbar sind, kann das Baumhaus immer nur ein Pfahlhaus sein, das in den Bäumen oder um einen Baum herum konstruiert ist. Wichtig ist, dass es vom Baumhaus aus nicht möglich ist, direkt auf den Baum zu klettern. Aus diesem Grund muss der Abstand zum nächsten Ast mind. 2,5 m betragen.“
Ich möchte es dabei bewenden lassen. Selbstverständlich sind bestimmte Regularien notwendig, um die Verletzungsgefahr zu minimieren. Aber wo ist die Grenze? In der Zeitschrift „Garten+Landschaft“ vom März dieses Jahres, die dem Thema Spielplätze in der Stadt gewidmet ist, schreibt Franz Danner, Sachverständiger für Sicherheit von Kinderspielplätzen, auf Deutschland bezogen, hinsichtlich des aktuellen Sicherheitsniveaus auf Spielplätzen: „In den 1970er-Jahren war die Zahl der öffentlichen Spielplätze geringer, zudem ereigneten sich dort pro Jahr zehn bis 20 tödliche Unfälle. (…) Der heutige Sicherheitsstand bestätigt die Bemühungen (um eine höhere Sicherheit durch Erarbeitung und Umsetzung von entsprechenden Normen, Anm.): Die Anzahl an Unfällen, die tödlich ausgehen, ist bei einer höheren Dichte an Spielplätzen auf ein bis zwei pro Jahr zurückgegangen. Heute beschäftigt uns ein anderes Problem: Unsere Spielplätze sind so sicher, dass die Gefahr besteht, dass sie zu langweilig sind. (…) Überwindet ein Kind das Hindernis zu locker, sucht es die nächste Herausforderung. Dann erklimmt es möglicherweise das Klettergerüst von außen oder weicht sogar auf angrenzende Bereiche aus.“ Letzteres hieße, dass das Kind den Spielplatz verlässt, weil zu uninteressant!
Offensichtlich ist, dass nicht der Menschenkind-Natur-Bezug im Zentrum der Überlegungen steht, sondern das Haftungsrisiko der Erhalter und Betreiber von Spielanlagen. Dem Menschenkind und der Natur wird erst innerhalb eines rechtlichen Rahmens ein Platz – besser: Plätzchen – zugewiesen: das Menschenkind darf auf einem herumliegenden, sicherheitstechnisch verstümmelten Baum herumturnen und auf einen vorbereiteten exakt 40cm dicken Fallschutz aus Sand oder Rindenmulch fallen, aber niemals, niemals auf den Erdboden!
Allerdings könnte die Sache auch genau andersherum liegen. Nämlich so, dass dem Menschkind-Natur-Bezug Vorrang eingeräumt wird und darum das Menschenkind am Spielplatz auf den Baum klettern darf. Eigenverantwortlich nämlich. Mit der Konsequenz, dass der nicht normierbare Ast brechen kann und sodann der Erdboden schneller als erwartet erreicht wird. Und dass, bloß weil der Baum an einem Weg steht, diesen niemand in „Verkehr gebracht“ hat und damit auch niemand für den Schaden aufkommen muss, außer – notgedrungen – das Menschenkind selbst. Damit würde sich meines Erachtens das Bild unserer Spielanlagen völlig ändern. Wollen wir das?
Es sind meines Erachtens rechtliche und sicherheitstechnische Rahmenbedingungen, die das Bild unserer Spielplätze prägen.
Im Folgenden sollen drei Beispiele von Spielplätzen vorgestellt werden. Die Beispiele unterliegen keiner besonderen Auswahl. Die ersten beiden Beispiele liegen an meinem Arbeitsweg. Ein weiterer Spielplatz, den ich hier vorstellen möchte, liegt im August-Matthèy-Park in Graz. Dieser ist mir im Studium begegnet und ich habe selbigen wieder aufgesucht.
Spielplatz in Paudorf,
Niederösterreich
An der Bahnstrecke von St. Pölten nach Krems, in unmittelbarer Nähe zur Bahnhaltestelle Paudorf, liegt, als Teil der Freizeitanlage mit Beachvolleyballplatz, dieser Kinderspielplatz. Innerhalb einer Umzäunung, von den übrigen Bereichen scharf abgetrennt, befindet sich der übliche Rodelhügel mit Rutsche und Kletterbrett, sowie rundum vielerlei Geräte, nebst Sitzbank mit Tisch zum Verweilen – an der Sonne wohlgemerkt. Denn. Die Bäume werden noch ein paar Jahre benötigen, um den notwendigen Schatten zu gewähren. Außerhalb des Zauns sind, fein säuberlich aufgereiht, verschiedene Geräte, wohl für Jugendliche und Junggebliebene gemeint, zur körperlichen Ertüchtigung aufgestellt. Ein Fitness-parcour unter freiem Himmel sozusagen. Zwar führt der Fahrradweg entlang der Bahnstrecke direkt vorbei, doch, würden Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, hier Halt machen? Was lädt sie ein?
Spielplatz in Herzogenburg,
Niederösterreich
In der Südwestecke des Schulgeländes, unweit der Volksschule gelegen. Die Ausstattung der Spielgeräte entspricht jener in Paudorf. Die Bepflanzung macht den schattigen Platz attraktiv. Morgens, vor Schulbeginn, während ich an der Bahnhaltestelle auf meinen Zug warte, kann ich die Aktivitäten am Spielplatz verfolgen. Außerhalb der Schulzeit wird der Spielplatz meines Wissens nicht besucht, obwohl das Gelände zugänglich wäre. Ein Holz-Lehm-Kinderhaus zeugt von einem Schulprojekt, scheint allerdings verwaist zu sein.
August-Matthèy-Park, Graz: „fliegende Sonnendächer über dem Sand“
Im Zuge der Recherchen für diesen Artikel erinnerte ich mich an einen besonders gestalteten Spielplatz im Grazer August-Matthèy-Park aus den späten 1990er Jahren. Dieser wurde vom Grazer Architekten Janòs Koppándy, der in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Spielplätze in Graz errichtet hatte, konzipiert. Mittlerweile wurde dieser Spielplatz leider umgestaltet. In Koppándys Seminar „Landschaftsgestaltung“, das ich während meines Studiums belegt hatte, stellte er diesen vor – aus seinem Skriptum stammt auch das, leider schlecht kopierte Bild der „fliegenden Sonnendächer“. Soweit ich mich heute, fast zwanzig Jahre später, erinnern kann, strich er zwei Punkte als wesentlich heraus. Zum einen die Einbeziehung der Natur in die Gestaltung bzw. die ressourcenfreundliche Gestaltung, die zum Beispiel in der Installation eines „Sonnenthrons“, einer Wiederverwendung von abgebrochenen Betonfundamenten, erkennbar war. Zum anderen die innovative Gestaltung von Elementen des Spielplatzes, wie die der „fliegenden Sonnendächer“. Einerseits dienten diese als Sonnenschutz für den darunter befindlichen Sandspielbereich. Andererseits bildeten diese mehrere schiefe Ebenen, die sich überlappten. Diese Ebenen konnten über Balken, im Zentrum des Bildes erkennbar, wie Bäume beklettert werden. Je nach Fertigkeit des Kindes konnte diese Struktur erklommen und damit erforscht werden. Hinsichtlich der sicherheitstechnischen Abnahme durch die zuständige Behörde argumentierte Koppándy damals erfolgreich, dass die Absturzgefahr ja dadurch verhindert würde, als dass nur jene Kinder die Struktur beklettern könnten, die in der Lage wären, auf den Balken bis zur Ebene zu balancieren. Und er fragte, warum diese Kinder, die dies geschafft hätten, denn abstürzen sollten? Das Bild bezeugt, dass die Behörde dieser Argumentation folgen konnte. Aktuelle Bilder dieses Sandplatzes zeigen allerdings ein anderes Bild: Die multifunktionale Struktur – Sonnendach, Klettergerüst, Spielebene – musste einer, meiner Meinung nach unansehnlichen, ja schrecklich banalen, monofunktionalen Überdachung – die freilich jeder sicherheitstechnischen Prüfung standhält – weichen. Ignoranz der Betreiber? Sicherheitsdenken der Behörden? Blasiertheit? Ich weiß es nicht.
Spielplätze. Ich sehe jetzt, aus der großen zeitlichen Entfernung mehrerer Jahrzehnte, welchen Schatz an Freiraum und Freizeit ich in meiner Kindheit und Jugend heben durfte. Auch muss ich erkennen, wie eng die Welt in den Jahrzehnten seither geworden ist, wie sehr die Freiräume meiner Kindheit durch die gesellschaftlichen Veränderungen verlorengegangen sind. Nichtsdestotrotz scheint heute die Rückkehr zur multifunktionalen Nutzung von öffentlichen Räumen, wie ich sie in meiner Kindheit noch gekannt hatte, vermehrt wieder in den Fokus zu rücken. So verweist der Landschaftsarchitekt Stefan Schmidt in der Ö1-Radiosendung „Gedanken“ vom 17. Mai dieses Jahres in dieser Hinsicht auf das Vorbild der Neugestaltung der Mariahilfer Straße in Wien: wo unter Bäumen – in verkehrsberuhigter Lage – flaniert, verweilt und geplaudert werden kann. Hier wurde ein neuer attraktiver Treffpunkt, ein Freiraum für Menschenkinder jeden Alters geschaffen.
Offensichtlich kommen wir nicht darum herum, uns diese Freiräume Schritt für Schritt wieder zurückzuerobern. Dazu gehört aber auch, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen Räume zumuten, die frei von der Kontrolle – besser: der Fürsorge – durch uns Eltern sind.