Sehnsucht nach Balance

Es ist wahrlich an der Zeit, die Kraft der Weiblichkeit in unser aller Leben bewusst zu integrieren. Denn Weiblichkeit ist ein Teil des Menschseins und Menschsein bedeutet, das Männliche und das Weibliche als Ganzheit anzuerkennen.   


Von Renate Liangos

Frau sein 

Da ich nun schon einige Jahrzehnte auf dieser Welt bin, habe ich mich auch schon auf verschiedene Art und Weise mit dem Thema Weiblichkeit befasst.

Weiblichkeit ist im Grunde das, was wir am wenigsten kennen, weil das Männliche so lange dominiert hat und uns das Weibliche aberzogen und verdreht wurde. Frauen wurden generell als schwach hingestellt und auf bestimmte Rollen „hin-erzogen“, sei es vom Elternhaus oder der Schule und den Medien.

In meinem Leben konnte ich glücklicherweise eine Vielzahl von weiblichen Ausdrucksformen kennenlernen, unterschiedlichste weibliche Vorbilder erleben und meinen Horizont mit verschiedenen Büchern von Frauen für Frauen erweitern. 

Ich könnte es so sehen, dass meine Schreibarbeit dem weiblichen Prinzip folgt. Es ist ein Prozess, der sich bis zum Abgabetermin hin entwickelt, in mir drin und rundherum. Ideen auf Zettel kritzeln, wirken lassen, die Notizen einsammeln, in den Computer tippen, wirken lassen. Aus den Fragmenten entsteht, oh Wunder, immer wieder ein Text, worin ich mich und meine Haltung wiederfinde. Ein Redaktionsschluss muss sein, aber punktgenau kann ich ihn oft nicht einhalten, da viele Prozesse nebeneinander ablaufen in meinem Leben. Das ist wohl auch etwas typisch Weibliches, Kreise ziehend, wachsend in Kreisen und nicht linear.  Einbeziehend, alles bisher Erlebte und derzeit sich Entfaltende. Wirken lassen und damit gestalten.

Üblicherweise wird das Männliche als verändernd betrachtet und das Weibliche als bewahrend. Ich möchte es so sehen, dass das Weibliche die Veränderung annehmen kann, die Veränderung IST, nicht sie durchführt. Das Weibliche bewahrt die Veränderung, die das Leben IST.

Deshalb sagt man auch: Das Weibliche ist Herrin über Leben und Tod. Weil es sich im Leben erleben kann, in dieser Veränderung zu Hause sein kann. Das Weibliche spürt die Veränderung als Leben in sich und ist gleichzeitig in dieser Veränderung geborgen.

Die Manipulation des Lebens, das Aufhalten oder Beschleunigen von natürlichen Lebensprozessen ist männlich-aggressivem Denken entsprungen. Da sich das Männliche im Leben und Tod nicht so geborgen fühlen kann wie das Weibliche, ist es gefährdet, die eigene Macht zu missbrauchen, indem es auf eine Ordnung Einfluss nehmen will, die vollkommen ist. Besonders wenn das Weibliche nicht geachtet wird, entfernen sich die Männer von der Verbundenheit mit dem Leben.

Ich denke, das Pendel hat weit genug in eine Richtung ausgeschlagen, es ist auf dem Weg in die Mitte. Sollten wir das nicht anerkennen und unser Leben nicht danach ausrichten, ist diese wunderschöne Erde mitsamt all ihrer Lebendigkeit verloren. Aber daran glaube ich nicht. Die Zeichen stehen auf „neues Leben in liebevollem Miteinander“.

Der Kampf um Anerkennung …

der weiblichen Kraft ist fast automatisch gegen die patriarchalen Systeme gerichtet. Schauen wir uns als Beispiel für patriarchale Systeme manche Religionen an. Es macht mich betroffen, was Frauen da alles nicht dürfen, wie sie verunglimpft, beschämt und unterdrückt werden oder wurden, wie sie ihre Körper verhüllen und einengen müssen. Wie sie ihre Kraft und Freude nicht zeigen dürfen, ihre Stimmen nicht erheben dürfen. Da schreiben Religionen vor, wie Frauen zu sein haben und Männer achten penibel auf die Einhaltung dieser Vorschriften. 

Ist Gott nicht das ganzheitliche Prinzip allen Lebens? Wie kann es sein, dass sich Vorstellungen zur männlichen Bevorzugung so ausgeprägt und gehalten haben? Natürlich nur mit der härtesten Verfolgung, Drohung, Verleumdung und Unterdrückung aller, die dem weiblichen Prinzip zu einer Stimme verhelfen wollten. 

Was in westlichen Gesellschaften zugelassen wurde, ist ein Frausein, das sich an den Regeln der männlich dominierten Gesellschaft orientiert und diese akzeptiert als einzige Möglichkeit der „Gleichberechtigung“. Hier möchte ich allen danken, die sich für gleiche Rechte von Frauen eingesetzt haben – zum Beispiel für ein Wahlrecht – und derzeit einsetzen, wie zum Beispiel für gerechte und gleichwertige Entlohnung. Gleichwohl ist es mir aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in einem von männlichen Prinzipien durchdrungenen System leben, wo Frauen nur Gehör bekommen und Anerkennung erhalten, wenn sie sich vollkommen an die männlichen Spielregeln halten. Diese Systeme des grenzenlosen Wachstums, der unkontrollierten Ausbeutung der Erde, der Vorstellung, Herr über Leben und Tod sein zu können, der Idee des Immer-mehr in immer größerer Geschwindigkeit,…diese Systeme führen zur Vernichtung alles Lebendigen.

Damit ist jetzt Schluss auf Erden. 

Die weibliche Kraft kehrt zurück …

und sie ist liebend, ganzheitlich, erdverbunden, mitfühlend, vergebend, lebendig, annehmend, unterstützend. Der weiblichen Kraft ist alles Lebendige heilig. Daher ist es eine Chance für die Natur, Mutter Erde und die Menschen, wieder zu gesunden und zu erstarken und alles Unnatürliche fallen zu lassen. Die weibliche Kraft sieht das Göttliche in uns Menschen und setzt auf Zusammenarbeit, auf Prozesse und Entwicklung in einem angemessenen Lebenstempo. Das rücksichtslose Erreichen von Zielen in möglichst kurzer Zeit ist ein Irrweg. Und nicht nur Frauen haben das erkannt.

Es geht um die „Bestätigung der weiblichen Lebenskraft – dieser machtvollen schöpferischen Energie, die wir uns nun zu unserer Erkenntnis und zu unserem Nutzen in unserer Sprache, unserer Geschichte, unseren Tänzen, unserer Liebe, unserer Arbeit und in unserem Leben zurückgewinnen. …

Denn wir berühren damit nicht nur die tiefste Quelle unserer Kreativität, sondern wir handeln auf weibliche und selbst-bestätigende Weise einer rassistischen, patriarchalen Gesellschaft zuwider.“ (Audre Lorde, 1978)

Was mich bei diesem Zitat erstaunt ist die Jahreszahl. So viele Jahre – und genau genommen noch viel länger – sind wir nun dabei, die weibliche Kraft wieder zu entdecken. Anscheinend wurde sie immer wieder zurück gedrängt und verfälscht, als nicht erwünscht oder als fehl am Platz erklärt.

Aber nun, genau jetzt, scheint sich etwas mehr zu bewegen. Mehr Frauen in verschiedenen Teilen der Welt treffen sich wieder in Frauenkreisen, beschäftigen sich mit ihrer Weiblichkeit als Urkraft und arbeiten Traumata auf. Diese Art von Arbeit machen die Frauen für alle Menschen und für die Heilung von Mutter Erde. Alles ist verbunden.

Das Vertrauen in lebendige
Entwicklung

In der Spielwerkstatt erhalten alle Kinder Raum, um ihre eigenen „Schätze“ entfalten zu können. Mädchen dürfen sein, wie sie sind. Buben dürfen sein, wie sie sind. Ob ein Kind die gesellschaftlich üblichen Rollenzuschreibungen lebt oder teilweise ganz andere, das überlassen wir den einzelnen Kindern. Die verschiedensten Ausprägungen von „typisch männlichen“ und „typisch weiblichen“ Verhaltensweisen kommen immer wieder auf uns zu und verändern sich immer wieder. Auch wir Betreuerinnen können uns den gesellschaftlichen Prägungen nicht entziehen. Es gibt nun mal Eigenschaften, die wir eher dem männlichen Sein oder eher dem weiblichen Sein zuordnen. Das Wesentliche ist jedoch, dass wir niemanden dahin gehend „verbiegen“ wollen. Alle Menschen vor Ort dürfen all ihre Eigenschaften leben, wenn sie dabei die vereinbarten Regeln des Zusammenlebens achtsam einhalten. 

Wie sehr sich in einer Gesellschaft Männer und Frauen von der Verbundenheit mit dem Leben entfernen, 

sehen wir auch daran, wie zerstörerisch mit Kindern umgegangen wird. Es braucht jetzt Eltern und Pädagoginnen, denen dies bewusst wird und die sich für ein kindgerechtes und menschenwürdiges Aufwachsen einsetzen. Dazu gehört das Respektieren von Entwicklungsprozessen, das Zulassen von Veränderung und lebendigem Wachstum.

In der SWS sind uns Prozesse wichtig und wir lassen sie zu. Wir sind von Zeit zu Zeit erstaunt über Fortschritte von Kindern in bestimmten Bereichen, weil sich die einzelnen Stufen eben nicht so klar definieren lassen. Das ist auch nicht notwendig: Es fließt, alles entwickelt sich, die Kinder, das Leben, wir. Alles.

Weibliche Lebendigkeit

Die weibliche Kraft ist eine Kraft der zyklischen Veränderung und der Gemeinsamkeit und das sind genau jene Aspekte, die wir nun vermehrt brauchen, um unsere gesellschaftlichen Systeme aus der Vorherrschaft der männlichen Prinzipien heraus in ein Gleichgewicht zu führen. Die Welt braucht jetzt mehr Weibliches, um dies zu erreichen. Die Bedeutung der wahren Männlichkeit für diesen Prozess möchte ich jedoch auch erwähnen. Es geht um Ausgleich, nicht um die Dominanz eines Prinzips. Ich habe einmal in einem Frauenkreis stehend erfahren, wie stärkend und beschützend der äußere Männerkreis war. 

Männer,

erkennt euch selbst und macht euch bereit für die Balance mit dem Weiblichen. 

Frauen, 

die ihr den Kontakt zu euren wahren Fähigkeiten und Träumen verloren habt, macht euch auf den Weg in eure Selbstermächtigung, lebt eure weiblichen Stärken. Lasst uns in dieser Übergangszeit vorbereiten, was dann gedeihen soll. Getraut euch zu wachsen, lebt die weibliche Lebendigkeit. Lasst uns am Gleichgewicht von dem Männlichen und dem Weiblichen arbeiten, für eine neue Erde, verbunden mit allem Lebendigen!

Clarissa Pinkola Estés beschreibt die lebendige Weiblichkeit ausdrucksstark in ihrem empfehlenswerten Buch „Der Tanz der großen Mutter“. Aus dem Segen, den sie ihren Leserinnen darin spendet, möchte ich auszugsweise zitieren:

„Seien Sie sich bewusst, dass Sie gesegnet sind, ungeachtet Ihrer Schwankungen, Verwirrungen, Abstiege, verlorenen Zeiten, Ihrer Gewissheiten und Einsichten, denn all das ist der Brennstoff, der Sie weiter antreibt…

Nehmen Sie auf, was Ihr Herz, Ihr Denken und Ihr Leben vertieft und nicht abstumpft.

Entscheiden Sie sich für das, was Sie tanzen lässt und nicht länger beeinträchtigt oder einschläfert.

Seele und Geist verfügen über gute Instinkte. Nutzen Sie sie.

Seele und Geist besitzen die großen Gaben des Herzens. Entfalten Sie sie.

….

Manche meinen, ein Segenswunsch sei nur Wortgeklingel. Aber angesichts Ihrer Hoffnung, Ihrer Liebesfähigkeit, Ihrer Sehnsucht nach Seele und Geist, Ihrer schöpferischen Energie, Ihres brennenden Interesses an einem erfüllten Leben ist dieser Segenswunsch, liebe Tochter, nicht nur Wortgeklingel. Nein, dieser Segenswunsch ist eine Prophezeiung:

Wenn einer wirklich lebt, dann tun’s die andren auch.“