Aber wir wissen doch noch gar nicht wirklich, was Zeit eigentlich ist

Das Interview wurde geführt von Michael Nussbaumer für TAU. Magazin für Barfusspolitik. Heft 15 (Dez. 2019).


von Gudrun Totschnig

TAU: Liebe Frau Knapp, Ihre Webseite heißt „Anders denken lernen“. Meine erste Frage, auch um Sie unseren Leser*innen vorzustellen: Anders denken lernen als wer?

Natalie Knapp: Mir geht es darum, immer wieder mal anders zu denken als ich selbst. Der Kern allen philosophischen Denkens besteht darin, dass man sich in unterschiedliche Denkweisen einübt. Viele glauben, Denken sei immer derselbe Prozess, es gibt aber sehr unterschiedliche Arten zu denken. In der Philosophie würde niemand sagen, Hegel hat Recht und Kant hat Unrecht oder umgekehrt, das wäre völlig bescheuert, darum geht es nicht! Sondern man versucht, so gut wie möglich, die Welt aus der Perspektive von Hegel zu verstehen und die Welt aus der Perspektive von Kant zu verstehen. Sich solange Zeit lassen, bis man den Winkel gefunden hat und die Welt aufgeht, die derjenige da gesehen hat. Dann hat man mehr Möglichkeiten der Kommunikation und der Weltwahrnehmung zur Verfügung und man muss seine eigene Weltwahrnehmung nicht mehr absolut setzen. Das ist unheimlich hilfreich!

Und das macht man auch, wenn man Romane liest oder ins Theater oder Kino geht. Deswegen machen wir das so gerne, weil man in die Lage versetzt wird, aus einer ganz anderen Perspektive das Leben zu erleben. Aber es reicht nicht, das nur als Unterhaltung zu betrachten – erst wenn ich das ernst nehme, ermöglicht mir das, die Welt neu und anders zu begreifen.

TAU: Es gibt ja eine Vielzahl an Fantasy und Science Fiction in Literatur und Filmen, das erscheint mir wie Ausflüge in andere Wirklichkeiten – und dann kehren wir gut oder weniger gut unterhalten in das dominante materialistische Weltbild zurück und sagen, das ist jetzt die wirkliche Wirklichkeit.

NK: Da sind wir schon mitten im Thema, bei den Fragen, die Sie mir geschickt haben. Ein erster ganz zentraler Klärungsschritt ist die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Wie sehr sind wir Individuum und wie sehr geformt durch die Weltsicht, in der wir aufgewachsen sind? Diese Weltsicht prägt sich ja ein bis hin zu den neurobiologischen Kernverbindungen in unserem Gehirn, mit denen wir überhaupt die Welt erkennen können! Der Kerngedanke der Aufklärung ist, dass wir Individuen sind – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ –, dass wir fähig sind, alles eigenständig zu erfassen und uns unsere eigene Meinung zu bilden. Heute sind wir am Höhepunkt dieses Aufklärungsmodells, wo fast alle Menschen glauben, sie seien zu hundert Prozent Individuen. Aber wir wissen schon längst aus der Autonomieforschung, dass das so nicht stimmt. In einem oftmals bestätigten Experiment wurden einer Testperson drei Striche gezeigt und die Frage gestellt, welche davon gleich lang seien, wobei einer deutlich länger war als die beiden anderen. Die Antwort war also eigentlich einfach, aber es war eine Gruppe von Schauspielern mit im Raum, die alle mit Absicht die gleiche falsche Antwort gaben. Das Ergebnis war, dass etwa 75 % der Getesteten sich dieser falschen Antwort angepasst haben. Wir sind evolutionsbiologisch so angelegt, dass wir uns an der Gruppe orientieren! Das bedeutet, wenn man einmal eine individuelle Entscheidung getroffen hat, die so vom Kollektiv nicht getragen wird, sollte man sich mit Menschen anfreunden, die diese Entscheidung unterstützen, sonst tragen wir das nicht durch. Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel: Meine Arbeit besteht hauptsächlich darin Vorträge zu halten und dazu muss ich sehr viel reisen. Ich mache das meistens mit dem Zug und das braucht viel Zeit und ist anstrengend. Ich muss mich da immer wieder neu dafür entscheiden, auch weil die Strukturen mir etwas anderes nahelegen. Wenn es aber selbstverständlich wäre mit dem Zug zu fahren, anstatt zu fliegen, von der Infrastruktur her und auch die Veranstalter das einpreisen würden, dann wäre es viel leichter, diese Entscheidung durchzutragen. Ich kann zwar individuelle Entscheidungen treffen, bin aber immer abhängig von der gesellschaftlichen Rückspiegelung. Sie haben ja auch danach gefragt, wie schnell eine Veränderung geschehen kann, auch in einem selbst – ich kann in dieser Interaktion zwischen Kollektiv und Individuum nur die beschränkte Menge an Lebensenergie einsetzen, die mir zur Verfügung steht, und da kann es sein, dass sich daraus sehr kleine Schritte ergeben. Aber diese kleinen Schritte, die man vorangeht, sind sehr bedeutsam für das Kollektiv – wenn niemand diese kleinen Schritte geht, wird sich das Kollektiv erst durch die Katastrophe verändern können.

TAU: Da kommt mir das bekannte Bild vom „gegen den Strom Schwimmen“ – und dazu ein zweites Bild, dass es unter der kollektiven Hauptströmung vielleicht eine Strömung in die andere Richtung gibt, auf die ich mich einschwingen kann.

NK: Ja, man kann seinen eigenen Werten mehr Kraft verleihen, indem man sich der passenden Strömung anschließt. Aber ich muss mich doch immer wieder anstrengen, weil ich ja doch in diesem Kollektiv lebe, wo diese Werte nicht gelten. Die Transformation kann aber ganz schnell gehen, und dann merken die meisten Menschen gar nicht, dass sie überhaupt stattgefunden hat, sondern das Leben ist dann einfach so.

TAU: Es braucht also Menschen, die sich diese Anstrengung antun. In diesen entsteht dann etwas wie Reibungsenergie zwischen „es wäre leicht, einfach mitzugehen“ und der eigenen Werteausrichtung. Das ist einerseits unangenehm, kann aber auch wacher machen – und dann beginne ich vielleicht weitere Dinge zu hinterfragen?

NK: Ja, wenn man es zu bequem hat, schläft man ein!

TAU: In anderen Interviews dieser Serie ging es darum, dass es wichtig ist, sich von Außenorientierung zu lösen, inklusive solcher Bewegungen wie Fridays for Future – und immer feiner zu spüren, was da, wo man gerade ist, wirklich gefragt ist.

NK: Ich glaube, dass es diese Verfeinerung braucht, um überhaupt Wahrnehmungsveränderung für sich selbst möglich zu machen. Und gleichzeitig lebe ich als soziales Wesen in dieser Welt, die in einem radikal gefährdeten Zustand ist. Wie gefährlich das ist, nicht nur für uns Menschen, sondern für dieses uralte Lebewesen, das dieser Planet ist, das können nur wenige Menschen wahrnehmen. Es braucht Menschen, die auf diese Gefahr hinweisen und versuchen ihren Lebensstil zu ändern, damit sich daraus etwas Kollektives entwickeln kann. Man muss auf zwei Ebenen aktiv sein, Verfeinerung allein reicht nicht mehr aus. Die Zeit ist kostbar und knapp.

TAU: Die Zeit ist knapp – und doch braucht tiefergehender Wandel seine Zeit. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, kann es ja auch schnell gehen, wenn die kollektive Strömung in eine andere Richtung kippt?

NK: Das haben wir ja auch schon erlebt, auch in radikal schrecklicher Weise wie beim Nationalsozialismus. Da sind Menschen, die sich zum Beispiel für gute Christen gehalten haben, in einen Strom abgetaucht, und sie konnten hinterher selbst nicht mehr sagen, wie das passiert ist. Und gerade wenn wir glauben, wir seien zu 100 % Individuen, und nicht mehr im Blick haben, wie stark uns Gruppendynamiken beeinflussen, kann das Kollektiv „übernehmen“. Wir sehen das auch jetzt, wo die Hasskriminalität in den sozialen Medien wächst und manches als normal gilt, was bis vor Kurzem sozial geächtet war.

TAU: Kann man sagen, dass wir gerade ein Ringen um die kollektive Weltdeutung erleben? – In welche Richtung soll es gehen, was ist erlaubt, wo sind die Grenzen?

NK: Ja, das ist eine gefährliche Situation. Wir sind durch unsere geschichtlichen Erfahrungen natürlich in einem anderen Bewusstsein als Anfang der 30er-Jahre und sind gewarnt – aber was man kennt, hält man für normal. Wir können uns nicht vorstellen, dass sich extrem nationalistische oder rassistische Strömungen wieder durchsetzen könnten, aber wir sehen in vielen Ländern, dass sie sich durchgesetzt haben und in den Regierungen sitzen.

TAU: Es sind also zwei verschiedene Gefahren, auf verschiedenen Ebenen, die ökologische Krise und der menschliche Umgang miteinander und wie hängen die …

NK: Ich glaube tatsächlich, dass die ökologische und die soziale Frage ganz eng miteinander verwoben sind. Immer wenn die Räume enger werden – und wir sind mittlerweile acht Milliarden Menschen und beuten sämtliche Ressourcen aus – werden Strategien gefahren, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Und eine altbekannte Strategie ist es, Randgruppen für alles Mögliche verantwortlich zu machen und mit Aggressionen zu reagieren. Die andere Strategie ist es, sich zusammenzuschließen und die Sache gemeinsam hinzubekommen. Beide Bewegungen sind momentan sehr stark. Fridays for Future zeigen gerade auch sehr schön, wie schnell Veränderungen gehen können, auch wenn das politisch noch nicht umgesetzt wird. Die Fakten über die ökologische Lage liegen seit 50 Jahren auf dem Tisch und es wurden schon viele Lösungsansätze entwickelt – aber trotzdem war das im öffentlichen Bewusstsein nicht enthalten, bis dieses kleine Mädchen auf den Plan kam und sich gegen alle Widerstände mit ihrem selbstgebastelten Pappschild „Schulstreik für das Klima“ vor das schwedische Parlament gestellt hat. Und mit dieser Entscheidung hat sie die Zukunft von Millionen Menschen verändert, weil jetzt nämlich keine Partei mehr um dieses Thema herumkommt. Da ist ein Funke übergesprungen auf alle anderen – es ist kein Zufall, dass das Jugendliche sind, weil es biologisch gesehen ja ihre Aufgabe ist, sich vom Kollektiv zu trennen und ein neues Kollektiv zu bilden und so Gesellschaft zu verändern. Pubertät ist ja nicht nur ein Prozess, der Individuen entwickelt, er entwickelt auch Gesellschaften! Jugendliche haben noch nicht so eingefahrene Muster und Realitätskonstruktionen. Und die Autismus-Spektrum-Störung von Greta Thunberg war auch laut ihrer eigenen Aussage eine Voraussetzung, weil sie dadurch lange Zeit eigenständig und ohne positive Rückmeldung an dem Thema dranbleiben konnte und weniger an das Kollektiv gebunden ist. Sie hat das alles nicht alleine bewirkt, sondern steht auf den Schultern zahlreicher Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen. Es gibt immer diesen einen Moment, wo was zündet, wo alle Voraussetzungen gegeben sind. Nur weil man nicht diese eine Person ist, die das Zünden verursachte, heißt das nicht, dass man weniger erreicht hat mit den eigenen Anstrengungen! Und das ist keine Idee, um gute Laune zu verbreiten, sondern wissenschaftlich belegt in der Netzwerkforschung, dass jede einzelne Handlung einen Impuls in ein Netzwerk gibt und sich vervielfacht. Wenn wir miteinander sprechen, wirkt das nicht nur auf uns beide zurück, sondern auch auf die, die wir nachher treffen und so weiter. Das potenziert sich natürlich. Wenn man mit einer bestimmten Haltung unterwegs ist, ganz alltäglich, beim Bäcker zum Beispiel, dann erreicht man damit Millionen Menschen, vor allem, wenn man sich anders verhält als üblich, weil das mehr auffällt.

TAU: Charles Eisenstein spricht davon, dass wir in der Zeit zwischen den Geschichten leben, die Geschichte der Trennung ist destruktiv geworden, die neue Erzählung ist noch nicht gefunden. Geht es aus Ihrer Sicht überhaupt darum, eine neue Geschichte zu finden oder eben darum, „anders denken zu üben“ und immer wieder neue Perspektiven einzunehmen?

NK: Ich glaube schon, dass wir als Gemeinschaft eine neue Geschichte brauchen, weil wir uns maßlos überschätzen, wenn wir glauben, dass wir die Welt in jedem Augenblick wieder komplett neu wahrnehmen können. Man braucht eine Geschichte, in der man leben kann, aber diese Geschichte kann ja beinhalten, dass viele Geschichten möglich sind und wir keine Angst vor diesen Möglichkeiten zu haben brauchen. Dass sich neue Geschichten entwickeln, das ist ein langfristiger und langsamer Prozess, und es können dabei Geschichten lange Zeit parallel nebeneinander herlaufen, das hatten wir auch beim Übergang von Mittelalter zu Neuzeit so. Wir sind Teil von etwas viel Größerem, aber das heißt ja nicht, dass wir ohnmächtig sind in diesem viel Größeren, sondern eben beteiligt. Das ist wieder eine Frage der Perspektive, die ich einnehme. 

Ich möchte noch etwas zur Frage der Dringlichkeit sagen. Wenn wir die kollektive Geschichte betrachten, haben wir uns schon ziemlich viel Zeit gelassen, und es müssen sich auf der politischen Ebene Strukturen ändern, die dem Einzelnen Veränderung erleichtern, weil es jede Menge Einzelner gibt, die so viel Kraft brauchen, um zu überleben, dass sie nichts übrighaben, um an Haltungen oder ihrem ökologischen Bewusstsein zu arbeiten. Es muss sich also auch im Sozialen und Wirtschaftlichen etwas ändern, damit Menschen auf der individuellen Ebene die Möglichkeit haben, ihre Wahrnehmung zu verfeinern. Wir sind als Personen der Übergangszeit mit einem Wahrnehmungssystem aufgewachsen, das, so wie es ist, nicht mehr ausreichen wird, wenn wir in Situationen geraten, für die wir noch keine Routine haben, und wir werden in diese Situationen geraten. Dann ist es wichtig, dass möglichst viele von uns stabil sind in ihrer eigenen Wahrnehmung, nicht in Panik geraten und diese Dinge zur Verfügung stellen können, die es dann braucht. Ich hatte letzthin einen Vortrag, da habe ich gesagt, wenn man sich nicht auskennt mit der Situation, dann muss man langsamer werden. Die einzige Möglichkeit sich auf einem Gelände zu bewegen, dass man nicht kennt, ist einen Schritt vor den anderen zu setzen und immer wieder zur prüfen, ob der Boden noch trägt, und auch mal einen Schritt zurückzugehen. Und dann hat eine Frau genau diese Frage gestellt, wie das zusammengeht, dass alles so dringlich ist und schnell gemacht werden muss und gleichzeitig müssten wir langsamer werden? Da hat sich eine Studierende gemeldet – ich war noch am Nachdenken und habe sie aufgerufen – und dann sagte die: „Aber wir wissen doch noch gar nicht wirklich, was Zeit eigentlich ist. Und wenn wir endlich langsamer werden, dann merken wir vielleicht, dass wir selber Zeit sind oder wenigstens ein wichtiger Teil davon, und von da an sieht dann alles schon ganz anders aus.“ Das war eine junge Studierende, und sie hat gezittert, während sie gesprochen hat. Da waren hundert Leute im Saal und die meisten von denen viel älter als sie, aber als sie gesprochen hat, hätte man eine Stecknadel fallen hören können und es war ein ganz langer Moment der totalen Stille in diesem Raum, und dann haben alle geklatscht. Das hat wirklich was verwandelt, dieser eine Satz, den vermutlich niemand intellektuell verstanden hat – niemand hat es verstanden und jede*r hat es verstanden. Und das war so ein Transformationsmoment für mich, ich habe Gänsehaut gehabt und die anderen auch. Das bedeutet, es ist alles gleichzeitig wahr, einerseits müssen wir schnell handeln, andererseits müssen wir endlich langsamer werden, denn die kollektive Hektik ist ein Teil des Problems, weil uns dadurch die andere Art der Wahrnehmung gar nicht möglich wird. Wir haben also zwei Ebenen, die wir bedienen müssen, das ist eine besondere Herausforderung. Man kann diese Frage nicht mit entweder-oder beantworten, sondern immer nur mit sowohl-als-auch.

TAU: Vielen Dank für das Weitergeben dieses Moments! Meine Abschlussfrage ist, welcher der vier Sätze Ihnen am nächsten steht: Die Zeit ist knapp – Es ist eigentlich schon zu spät – Es ist immer die richtige Zeit – Die Zeit ist reif für …

NK: Mir sind mehrere Aussagen gleichzeitig nah. Erstens: „Es ist höchste Zeit“, und zweitens: „Es ist immer die richtige Zeit“, und drittens auch: „Die Zeit ist reif“, weil die Zeit tatsächlich im Augenblick reif ist für eine ganz große gesellschaftliche Veränderung, die sowieso stattfinden wird, ob wir das wollen oder nicht. Weil sich die äußeren Umstände in der Zeit, in der wir nicht gehandelt haben, so konstelliert haben, dass die nächsten 20 Jahre uns diese Art von Veränderung abfordern werden. Die Zeit ist jetzt reif für diese gesellschaftliche Veränderung, wir können nur noch entscheiden, wie schwer oder leicht die von der Hand gehen wird, ob sie in 30, 40, 50 Jahren oder in 250 Jahren wieder zu einer Form von Gesellschaft führen wird, in der wir wirklich leben wollen, darüber können wir jetzt noch mitentscheiden, aber nicht mehr darüber, ob sie stattfinden wird oder nicht. Ich glaube, wir haben tatsächlich keine Wahl mehr, ob Veränderung oder nicht. Änderung wird stattfinden, es wird nur mehr oder weniger hart werden. Das ist, woran wir jetzt arbeiten.