Über die Kunst des Zuhörens und die Magie des Geldes

Stellen wir uns einmal vor, wir würden in einem Märchen leben.

In diesem Märchen könnten wir die Welt verändern, indem wir einander zuhörten. Wir würden uns füreinander Zeit nehmen, um uns mit ganzer Aufmerksamkeit, Offenheit und Interesse vollkommen in die Erlebniswelt unseres Gegenübers hinein zu versenken und für einen Moment die Ängste, Sorgen und Freuden dieses Menschen wahrnehmen, als wären es unsere eigenen.

Wir könnten uns in diesem Märchen jenseits von „richtig“ und „falsch“ begegnen, würden von unseren größten Widersachern am meisten lernen und zwischen uns eine Weisheit hervorzaubern, die wir niemals in einem Einzelnen von uns finden könnten.

… dann wären wir in der Welt von Momo angekommen.


von Oliver Sachs

Über sieben Jahre schrieb Michael Ende an seiner Geschichte Momo. Als sie 1973 erschien, verbreitete sie sich schnell über den Globus. Der Roman wurde in vierzig Sprachen übersetzt und gehört bis heute zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Millionen von Kindern erfuhren von dem Wesen des kleinen Mädchens Momo und von ihrem erfolgreichen Kampf gegen die Zeitdiebe. Bei vielen Menschen ist in dieser Zeit eine tiefe Verbindung zu der sanften Heldin entstanden.

Momo lebt in der Ruine eines Amphitheaters in einem kleinen namenlosen Ort, der mehr und mehr unter den Einfluss von Grauen Herren gerät, die die Menschen dazu verführen, ihre Zeit zu sparen, indem sie ein verlockendes Angebot machen: Sie versprechen, eingesparte Zeit nach Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzugeben. Das verändert die kleine Gemeinschaft in kurzer Zeit sehr stark. Die Einsparung von allem, was das Leben zuvor lebenswert machte – Pausen, Begegnungen, Gespräche, Feiern und Spielen, liebevolle Zuwendung – führt zu kollektiver Rastlosigkeit, Streit, Einsamkeit, Depression und Sucht. Die Menschen werden selbst zu Grauen Herren.

»Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher, die Geldfrage gelöst wird«, schrieb Michael Ende 1986 in einem Brief über die Hintergründe seiner Geschichte. Wir dürfen Momo also verstehen als Parabel über Geldsysteme, ihre Konstruktion und deren Auswirkungen auf menschliches Verhalten.

Die Konstruktion eines Geldsystems offenbart sich unter anderem in der Forderung, die eine Bank stellt, wenn sie Geld erzeugt. Bei der Vergabe eines Kredites, dem wichtigsten Schöpfungsakt unseres Geldwesens, ist es die Frage nach Wachstum: „Bist du leistungsfähig genug, um uns in Zukunft mehr zurückzugeben, als wir heute in dich investieren?“

So wird der Glaube an Wachstum zum Ursprung aller schwarzen Zahlen auf unseren Kontoauszügen, denn alle Einheiten unseres Geldes entstehen im Moment der Vergabe von Krediten als Guthaben – und in gleicher Höhe als Schuld. Dadurch steht der Summe aller schwarzen Zahlen – irgendwo auf der Welt – eine durch Zins und Zinseszins wachsende Summe von roten Zahlen gegenüber, die jemand zurückzahlen muss. Die Rechnung geht nicht auf. Irgendjemand wird es nicht schaffen.

Unser Geldsystem gleicht einer kollektiven „Reise nach Jerusalem“.

Wachstum ist das unserem Geld vorauseilende Versprechen. Und dieses Versprechen prägt den Charakter aller wirtschaftlichen Leistungen: Je mehr ökonomisches Wachstum eine Tätigkeit verheißt, desto höher die Bezahlung dafür. Man könnte sagen, unser Geld sei durch den Glauben an Wachstum gedeckt. Man könnte auch sagen, dass wir durch die Bedingungen unserer Geldschöpfung wirtschaftliches Wachstum heiligsprechen!

Vor einigen Jahren stand ich beängstigt und ratlos vor der Unmöglichkeit, mit Familie nachhaltig zu leben und zugleich als Kameramann in Filmprojekten mitzuwirken, die mir sinnvoll erschienen. Solche Projekte brachten meist wenig oder überhaupt kein Geld ein, von dem ich die Familie hätte ernähren können. Ich erlebte unsere finanzielle Notlage als mein persönliches Versagen und hatte in dieser Zeit einen Coach, der mir riet, mich für gut bezahlte Aufträge „ein wenig zu prostituieren“ und den Rest meiner Zeit und das Geld, das ich dabei verdiene, meinen Herzens-Projekten zu widmen. Mit dieser Strategie hat sich in kurzer Zeit mein Honorar vervielfacht und meine Tätigkeit als Kameramann verändert: Ich arbeitete mehr und mehr in der Werbung. Zuletzt führte mich dieser Weg in eine hochdotierte Imagefilm-Produktion für einen Atom-Konzern – und an den Rand einer Depression.

Die Sorge um Geld hat mich damals dazu bewegt, gegen meine Überzeugungen und mein Wesen zu handeln und mehr und mehr Zeit damit zu verbringen, wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen. Ich habe meine Stundenblumen verkauft, um mit dem Geld später irgendwann einmal etwas wirklich Sinnvolles zu tun und mich so in ein Zahnrädchen der Megamaschine verwandelt, deren globaler Wachstums-Imperativ die Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen immer weiter ausdehnt.

Michael Ende hat in Momo die Ausbeutung der menschlichen Lebenszeit und die damit verbundene gesellschaftliche Beschleunigung und soziale Isolation hervorgehoben. Die Menschen verschwinden zunehmend hinter ihren Berufen, die ihnen immer weniger Berufung sind, denn Qualität und Inhalt ihrer Arbeit sind zweitrangig. Es zählen ausschließlich die Quantität der Ergebnisse und die Geschwindigkeit, mit der sie erzeugt werden. Für private Zeit bleibt immer weniger Raum. Kinder werden vernachlässigt und mit Konsumartikeln vertröstet, zwischenmenschliche Begegnungen und Freundschaften werden flüchtiger. Die Menschen verlernen, sich füreinander Zeit zu nehmen und sich gegenseitig zuzuhören. So schlägt sich der Zeitmangel auch in den Gesprächsgewohnheiten der Gemeinschaft nieder: Es entstehen immer häufiger Missverständnisse, Diskussionen und Streit.

Die Erkenntnis über diese Wirkung unseres Geldwesens auf unsere Verbundenheit und unsere Gespräche kann sehr erschreckend wirken, weil wir uns dem System machtlos ausgeliefert fühlen. Insbesondere wenn wir persönlich durch Geldmangel bedroht sind, fühlen wir im Angesicht dieser Übermacht schnell eine beängstigende Einsamkeit, die viel Kraft für einen individuellen Überlebenskampf mobilisiert – so wie ich selbst meine Werte verraten habe, um meine Familie versorgen zu können.

Eine Zeit lang ist es möglich, das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, es mit Ersatzbefriedigungen zu überdecken. Die Spirale aus Einsamkeit und Konsum- oder Arbeitssucht spielt dann dem Wachstumsparadigma in die Hände und vollendet den Kreislauf.

Durch Momo erzählt uns Michael Ende aber auch von einer anderen Möglichkeit, dem Gefühl der Einsamkeit zu begegnen, denn Momos besondere Fähigkeit, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme zuzuhören, ist tatsächlich ein Weg, das Trauma der Einsamkeit zu überwinden und eine nährende Verbindung mit der Welt wiederherzustellen. Das Gefühl von Verbundenheit ermöglicht uns, wieder wahrzunehmen, was wesentlich ist. Es wird leicht, Überflüssiges zu erkennen und loszulassen, und plötzlich haben wir – wie durch Magie – mehr Zeit als wir dachten. 

Zugleich lerne ich durch Momo aber auch, dass wir die strukturellen Kräfte, die einer solchen individuellen Transformation entgegenstehen, nicht unterschätzen sollten. Ich verstehe unser Geldsystem als traumatische Manifestation der Hierarchie, der Macht und des Besitzanspruchs. Die Eigenschaften des Geldwesens nehmen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Sie haben sich über Generationen in gesellschaftlichen Strukturen, in unseren Herzen und in unseren Verhaltensmustern manifestiert. Dieses „Geld-Trauma“ hat viele Erscheinungsformen: Wir begegnen ihm in der Zerstörung unserer ökologischen Lebensgrundlagen, es zerreißt die menschliche Gemeinschaft in Reich und Arm, schafft groteske Machtkonzentration, verwandelt demokratische Gesellschaften in aggressive Plutokratien; es erzeugt Konkurrenz und Zeitdruck und wachsende Zahlen von Burnout, Depressionen und Selbstmorden. Die unserem Geldwesen zugrunde liegenden Gefühle sind: Ich bin nicht gut genug, ich bin nicht wichtig genug, ich habe es nicht verdient. Geld erzeugt existentielle Angst und wird zur Hauptursache für Menschen, ihre Zeit und Kraft für Tätigkeiten zu opfern, die nicht ihrem Wesen entsprechen.

Unser derzeitiges Geldsystem ist ein perfektes Werkzeug der sozialen Entfremdung.

Für den vollständig entfremdeten Menschen hat Michael Ende das Bild der Grauen Herren geschaffen, die eine unerträgliche Kälte auf Menschen in ihrer Umgebung ausstrahlen. Sie sind wohl auch ein Sinnbild für den rein rational denkenden, ausschließlich zu seinem eigenen Vorteil handelnden Homo Oeconomicus. Der Fachausdruck für dieses Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften lautet übrigens „Rationaler Agent“ und ich glaube, es ist kein Zufall, dass sich die Grauen Herren in Momo jeweils als nummerierte Agenten der Zeitsparkasse vorstellen.

Geld in seiner heutigen Form verwandelt die menschliche Gesellschaft in ein Heer von (manchmal gut, überwiegend aber schlecht bezahlten) Grauen Herren. Das meinte Michael Ende möglicherweise, wenn er von der „schwarzen Magie des Geldes“ sprach.

Er sprach aber auch von der Möglichkeit, diese dunkle Magie in eine Helle zu verwandeln.

Indem wir beginnen, das gesellschaftsgestaltende Wesen des Geldes zu begreifen, könnten wir seine Kräfte neu ausrichten und in Werten verwurzeln, die uns tatsächlich heilig sind: Welche gesellschaftlichen Kräfte würde ein mit Klimaschutz, ein mit authentischer Gemeinschaft, oder – um vollkommen utopisch zu denken – ein mit urteilsfreiem Zuhören gedecktes Geld freilegen?

Mit einem Bewusstsein über diese Zusammenhänge wäre es zum ersten Mal möglich, das Potenzial der Geldschöpfung kreativ zu nutzen und die Kräfte unseres Geldwesens so auszurichten, dass sie dem Planeten und unserer Gesellschaft dienen.