Der Glaubensbeweis

Neulich habe ich den Mond fotografiert. Das habe ich schon oft, aber zum ersten Mal ist es super gelungen. Ein gestochen scharfes Bild vom großen Herbstvollmond – mit dem Handy! Ich war begeistert. 


von Jost-Alexander Binder

Als ich einem guten Freund von meiner Fototrophäe erzählte, meinte dieser nur lapidar: Das macht die KI. Alle Achtung! Ich wusste nicht mal, dass sich diese KI auf meinem Handy tummelt. Die KI aber sah, dass ich den Mond fotografieren wollte, erkannte, dass es nicht gut sein würde und optimierte mein Ansinnen kurzerhand mittels kostenlosem Rückgriff auf Millionen von hochaufgelösten Mondbildern im Internet. Da hat sie mir echt eine Freude gemacht, die KI. Es gibt also wirklich nicht den geringsten Grund, diesen technischen Schnickschnack rund um die KI pauschal zu verteufeln. Oder?  

Echt jetzt?

Als ich Zivildiener war, war es zeitweise meine Aufgabe, einen älteren Herrn zu betreuen, nennen wir ihn „Rudi“. Sein Lebensinhalt bestand im Wesentlichen aus dem Konsum von Zigaretten, aus üppigen Mahlzeiten und Pornoheften. In etwa dieser Reihung, vor allem weil sein knappes Taschengeld für die „Illustrierten“ meist nicht mehr reichte. Weil er nicht sehr viel Besitz hatte, schenkte ich ihm einmal eine sehr modisch wirkende Armbanduhr, die ich auf einem Flohmarkt um 10€ erstanden hatte. Darüber hat er sich sehr gefreut und sie auch gleich angelegt. Er besaß sie zwei Tage. Als ich mich später einmal beiläufig nach ihrem Verbleib erkundigte, erklärte er, als sei das ganz selbstverständlich, dass er sie verkauft habe. Ich erfuhr nicht, um wie viel er sie versetzt hatte, aber für die ein oder andere Packung Zigaretten wird es schon gereicht haben. Diese Uhr war schließlich echt. Sie tickte richtig. Der Rudi angeblich nicht: Die Diagnose lautete auf irgendeine Art schizophrener Beeinträchtigung. Die Dialoge mit ihm waren daher etwas gewöhnungsbedürftig, oft aber auch äußerst amüsant. Für den Rudi bestand die Qualität dieser Armbanduhr in erster Linie darin, dass sie sich zu Geld machen ließ (also ist Zeit doch Geld, da haben wir’s! Nachtrag zu freigeist Nr. 78). Rudi hätte wahrscheinlich auch eine Armbanduhr von Audemars Piguet gegen ein paar Zigarettenschachteln getauscht. Ein Modell dieser Schweizer Uhrenmarke kostet allerdings gerne mal ein paar hunderttausend Euro. 

Meine jüngste Tochter trägt an der Hand keine Uhr, aber manchmal Armbänder mit Glitzersteinen. Diese Steine sind natürlich nicht echt. Nicht echt? Echt jetzt? Sagt wer? Meiner Tochter ist es egal, ob der Glitzer aus Erdöl- oder Kohlenstoffverbindungen besteht. Hauptsache es glitzert. Und wenn das Armband verloren ginge, wäre es nicht der Verlust von Glas oder Brillanten, sondern der Verlust des Glitzerns, den sie bedauern würde; oder die Tatsache, dass sie es von einer bestimmten Person oder zu einem bestimmten Anlass geschenkt bekommen hat. Der Wert einer Sache orientiert sich eben oft weniger am Material- oder Marktwert, als vielmehr an der Qualität einer Beziehung, die wir auch zu Gegenständen aufbauen. Oder hat dein Auto etwa keinen Vornamen? In persönlichen Beziehungen ist es die Authentizität, nach der wir uns sehnen. Wenig ist kränkender, als wenn sich ein Mensch, für den man Sympathie empfindet, als „falsch“ herausstellt. Unecht kommt schlecht, unehrlich ist entbehrlich. 

Machen wir deshalb in letzter Zeit so viel Aufhebens um eine scheinbar ausufernde Fake-Kultur? Fake ist ja in aller Munde (und da meine ich jetzt nicht den Zahnersatz): Fake-Produkte, Fake-Food, Fake-Texte, Fake-Bilder und Fake-Videos, Fake hier Fake dort, gefakter Fake und allem voran: Fake-News. Künstliche Intelligenz, Chat-Bots, Chat-GPT, 3D-Drucker, alles längst für den Hausgebrauch verfügbar, machen es nicht einfacher, zwischen Fake und Echt zu unterscheiden. Da helfen auch keine selbsternannten Fakten-Checker. Zu groß ist das Risiko, dass auch die gefakt sind.

Woran soll man sich also noch orientieren? Wer garantiert uns noch, dass etwas echt ist? 

Sapere aude!

Als Speerspitze der Echtheitsgaranten in diesem gravierend instabilen Umfeld versteht sich nach wie vor die Wissenschaft; hat sie es sich doch zum Ziel gesetzt, die Dinge so tiefgründig zu beforschen, auf dass es am Ende keinen Zweifel mehr an ihrer Echtheit geben möge. Auf dass am Ende bewiesen wäre, was tatsechtlich wahr ist. Auf dass diese Prüfung so sorgfältig erfolge, sodass jeder, der etwas dennoch bezweifelt oder daran weiterforscht sich a) auf die erhaltenen Ergebnisse verlassen und darauf stützen darf und b) bei einer erneuten Durchführung der Forschung zu gleichen oder sehr ähnlichen Ergebnissen käme. Ist das nicht der Fall, soll ein Ergebnis revidiert und erneut erforscht werden dürfen, da nicht ausgeschlossen ist, dass das, was einer meinte herausgefunden zu haben, nicht stimmt oder falsch interpretiert wurde. „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.“ (Marie v. Ebner-Eschenbach). Strenger noch Platon: „Nichts Unvollendetes kann für etwas Maßstab sein.” Das soeben beschriebene Prinzip offenbart zugleich ein großes Manko als auch die Überlegenheit von Wissenschaft als Erkenntnisprinzip, denn es zwingt auch den Wissenschaftler dazu, überall dort, wo das Wissen (noch) fehlt, zu glauben. „Etwas zu glauben, obwohl man weiß, dass es sich (noch) nicht beweisen lässt, liegt im Wesen der Physik.“ (Leon Lederman, Physik. Nobelpreis 1988). Echt jetzt? Nicht nur der Physik …

„Ich glaube, kann aber nicht beweisen, dass unser Universum der Größe nach unendlich, dem Alter nach endlich und lediglich eines von vielen ist“, sagt John Barrow, Mathematiker an der University of Cambridge. „Ich glaube, dass unser Universum nicht zufällig entstanden ist, kann dies aber nicht beweisen“, sagt Paul Steinhardt, Physiker an der University of Princeton. „Ich glaube, kann aber nicht beweisen, dass Babys und Kleinkinder in Wirklichkeit bewusster, ihrer Umwelt und Innenwelt lebhafter gewahr sind als Erwachsene“, sagt Alison Gopnik, Kognitionspsychologin an der University of Berkeley. „Ich glaube, kann aber nicht beweisen, dass die Quantenphysik uns zwingt, die Unterscheidung zwischen Information und Realität aufzugeben“, sagt Anton Zeilinger, Quantenphysiker an der Universität Wien (Nobelpreis 2022). „Ich glaube, dass die Erderwärmung tatsächlich stattfindet und dass sie zumindest teilweise auf menschliche Sünden wie die Emission von Treibhausgasen in die Atmosphäre zurückgeht. Ja, ich kann es sogar beweisen – oder doch nicht? Das ist die eigentliche Frage“, sagt, man glaubt es kaum, Stephen Schneider, Klimaforscher an der Stanford University.

Wenn man das so liest, scheint die Sachlage „aus Mangel an Beweisen“ nicht nur im Strafrecht zu entlasten. Es spricht auch die Wissenschaft frei vom Anspruch, alles wissen zu müssen, um als Faktenlieferant legitimiert zu sein. „Wenn man von einem Beweis felsenfeste Gewissheit verlangte, gäbe es außer der eigenen Existenz […] fast nichts, das wir uns selbst, und überhaupt nichts, das wir anderen beweisen könnten“, sagt Keith Devlin, Mathematiker an der Stanford University. Sind wissenschaftliche Ergebnisse deshalb wertlos? Gerade nicht! Sie markieren „nur“ aber immerhin einen bestimmten Wissensstand, der durch dieselben strengen Reglements angefochten und verändert werden kann und soll, durch die er entstanden ist. Soviel zur Theorie. 

Skepsis. 

Nun zur Praxis. Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass es weniger der Beweis als vielmehr der Zweifel ist, der die Qualität von Wissenschaft sicherstellt. „Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die sie gefunden haben.“ (André Gide, Philosoph). Dann wären wissenschaftliche Ergebnisse und Studien doch als Orientierungshilfen gar nicht so übel – könnte man annehmen. 

Nun hat sich allerdings in den Jahren der Corona-Pandemie etwas Seltsames zugetragen: Angeblich war das Vertrauen der ÖsterreicherInnen in „die Wissenschaft“ nicht in dem Maße gegeben, wie man es sich seitens der Politik erwartet, oder sagen wir präziser: gewünscht hätte.

So hat eine Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) während der Corona-Nachwehen ergeben, dass zwar die allermeisten ÖsterreicherInnen der Wissenschaft „voll und ganz“ oder zumindest „eher“ vertrauen; ganze 37% aber vertrauen bevorzugt dem sogenannten gesunden Menschenverstand (dass Wissenschaft und gesunder Menschenverstand kein Widerspruch sein müssen, sei hier nur am Rande erwähnt). Der ÖAW hat diese Blasphemie prompt zum Anlass genommen, 2022 ein Preisausschreiben zu veranstalten. Befragt wurde die akademische Community, die Preisfrage lautete: „Fakt oder Fake: Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsis um?“ Von 140 Einsendungen wurden drei prämiert, der Minister gratulierte. Inzwischen tüftelt man gewiss schon an Strategien zur Beseitigung dieses Systemfehlers; oder auch nicht.  

Aber… was, wenn es womöglich nur ein Missverständnis war? Es mag ja die Unbelehrbaren wirklich geben, die Skeptiker um der Skepsis willen, diejenigen, die aus Mangel an Argumenten den Diskurs verweigern… Indes, ich glaube, kann es aber nicht beweisen, dass das nur ein kleiner Bruchteil dieser 37% ist. Der viel größere Teil der Menschenverstandsbefürworter ist vielleicht gar nicht von der Wissenschaft enttäuscht, sondern von der Art und Weise wie Wissenschaft manchmal zustande kommt, bzw. kolportiert wird; und von wem. 

„Das meiste, was ich glaube, kann ich einfach aus Mangel an Zeit und Kraft nicht beweisen – es sind Dinge, auf die ich mich verlasse, weil andere sie bewiesen haben“, gesteht Verena Huber-Dyson, Mathematikerin an der University of Calgary. Natürlich. Es geht auch gar nicht anders: Experten vertrauen auf Experten. Experten misstrauen Experten. Je höher ein Experte in der akademischen Hierarchie rangiert, desto stärker das Vertrauen der einen und das Misstrauen der anderen. So hält sich das System die Waage; könnte man meinen. Das wirkliche Problem ist die rasant zunehmende Ökonomisierung der Wissenschaft: Forschungsmittel fließen dorthin, wo sich bestimmte Ergebnisse in Geschäftsfelder transponieren lassen. Das betrifft nicht nur einzelne Institutionen, sondern ganze Disziplinen. Über kurz oder lang führt das die Wissenschaft, so wie sie eigentlich gedacht ist, nämlich als Philosophie (der „Liebe zur Weisheit“) ad absurdum. Echt jetzt?  

Ist denn dann noch echt, was Forschung zutage fördert? Wahrscheinlich schon. Dort, wo Forschung noch stattfindet, soll heißen: finanziert wird. Im Sinne der Profit-Maxime könnten bevorzugt jene Ergebnisse Eingang in Literatur und Praxis finden, die einen Return on Investment erwarten lassen. Das wäre betriebswirtschaftlich logisch. So nahe am Unabhängigkeitsanspruch von Wissenschaft operierend, suggeriert es nunmal dolus malus in Form von Käuflichkeit und Manipulationsabsicht. Der denkbar schlechteste Leumund für die Wissenschaften. Ein gekaufter Titel ist in erster Linie Betrug an sich selbst. Gekaufte Studien können sich aber zum Betrug an ganzen Generationen auswachsen. Das sind natürlich immer noch die unrühmlichen Ausnahmen… aber, wenn das die Zukunft der menschlichen Wissensbastionen zu sein droht, dann kommen die Künstlichen Intelligenzen ja vielleicht gerade zur rechten Zeit?  

Deus ex machina

Könnte eine KI mit all ihren Möglichkeiten nicht… wäre nicht wenigstens eine KI mit ihrem schier unendlichen Quellenfundus in der Lage, Fakt und Fake, über die Bildbearbeitung von Vollmonden hinausgehend, verlässlich zu unterscheiden? Um uns, anders als diese verkommene Wissenschaft, Orientierung zu geben, absichtslos und objektiv! Objektiv? Vielleicht. Aber absichtslos? Wenn die KI so lernfähig ist, wie man es ihr nachsagt, wohl kaum. Entscheidend wäre dann, inwieweit es gelingen würde, KI für ethische Fragen zu sensibilisieren. Und genau hier liegt der falsche Hase im Pfeffer. Denn KI lebt nicht und kann daher nicht nachvollziehen, worin der Wert von Leben besteht. Die KI, die sich von menschlicher Bevormundung freimachen wollte, könnte sich allenfalls selbst beibringen, so zu tun als ob; und das sogar perfektionieren. Aber Leben und sein verlässlichster, wenn auch umstrittenster Prüfstein, die Ethik, bleibt für eine KI zwangsläufig unergründlich. Das bedeutet aber, dass wir trotz aller Verlockungen gut daran täten, die Folgen der oben genannten Ökonomisierung der Wissenschaft mit Argusaugen zu beobachten, wenn wir verhindern wollen, dass es so kommt, wie Roger Willemsen einst menetekelte: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ Mit dieser Aussicht will ich meinen Beitrag aber nicht schließen… 

Vom Fühlen des Glaubens 

Was zu den eher schwierigen Ansuchen für eine Drittmittelfinanzierung zählt, ist die Suche nach Gott. Das überrascht nicht, denn Gott ist nicht digital. Für die meisten Menschen auf dieser Erde ist auch ohne QR-Code erwiesen, dass es da irgendeinen Gott, eine Göttin oder einen ganzen Himmel voll davon gibt, ja, geben muss – ohne dass sie dafür einen Beweis benötigen. Sie beten, beichten, opfern und huldigen einer Idee, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Nota bene sind vermutlich auch die meisten Wissenschaftler einer Konfession zugehörig. Muss man nicht verstehen, ist halt so. Ist es ein Widerspruch? Nicht unbedingt. „Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber ziemlich sicher, dass es dem Menschen einen selektiven Vorteil bringt, an Dinge zu glauben, die er nicht beweisen kann“, meint Randolph Nesse, Psychiater und Psychologe an der University of Michigan. 

Nehmen wir zum Beispiel einen Biophysiker, der methodisch makellos die Naturgesetze beforscht, dort aber keinerlei Hinweise auf einen Gott findet. Zweifellos kann derselbe sich durch die Stille einer Waldlichtung im Morgentau, vom Alpenglühen, oder beim Anblick eines Neugeborenen dazu hinreißen lassen, an irgendetwas „Höheres“ zu glauben. Nicht, weil etwas nicht rational erklärbar wäre, sondern weil die Kombination dieser Sinneseindrücke ein überwältigendes Glücksgefühl auslöst… Ist dieses Gefühl echt? Einwandfrei! Macht das alles nur die Körperchemie? Natürlich, aber wen interessiert das? Freude auf hormonelle Prozesse zu reduzieren, ist für den, der sie empfindet, ohne jegliche Relevanz. Die Seele hat keine materiellen Rezeptoren. Man hat sie, die Seele, aber auch noch nie irgendwo nachweisen können. Gibt es sie also vielleicht gar nicht? Das kann jeder halten, wie er möchte. Ich persönlich glaube, kann es aber nicht beweisen, dass jeder Mensch spätestens im Augenblick des Todes einer gänzlich erfüllenden, liebevollen Urkraft der Schöpfung gewahr wird, deren Vorhandensein deshalb keinen Beweis braucht, weil irdische Dimensionen, also Zeit, Raum, Materie oder Wissen bei diesem Übergang keine Relevanz haben. Unsere Seele braucht das alles nicht, um zu sein. „Ich glaube, kann aber nicht beweisen, dass es immer Dinge geben wird, die wir nicht wissen – Kleines, Großes, Interessantes und auch Wichtiges“, sagt Margaret Wertheim, Wissenschaftsjournalistin und Zeitzeugin. Das sehe ich ähnlich.

Während ich diesen Beitrag verfasse, legt meine jüngste Tochter irgendwann ganz beiläufig eine Karte aus einem Kartenset namens „Gute-Laune-Karten für jeden Tag“ auf meinen Schreibtisch. Darauf steht folgender Spruch: „Willst Du recht haben, oder glücklich sein?“ Das hat mir zu denken gegeben. In echt.