„Das Leben ist keine Generalprobe“

„Mich interessiert das Kapital wenig und das Leben sehr“, sagt Heini Staudinger im Film über ihn und seine Firma im Waldviertel. Dort arbeiten 170 Mitarbeiter, die hochwertige Möbel, Taschen, Textilien und Schuhe der Marke „Waldviertler“ fertigen, die dann in 55 GEA-Läden im In- und Ausland verkauft werden. Im Mai dieses Jahres wird Heini Staudinger beim Bildungs-Symposium in der Lernwerkstatt im Wasserschloss an der Podiumsdiskussion teilnehmen. Rainer Wisiak hat ihn schon vorab zum Thema Bildung befragt – und über das Leben.

Heini, an der Podiumsdiskussion im Mai – Thema: „Welche Bildung braucht die Zukunft?“ – wird auch der ehemalige Ausbildungsleiter für Lehrlinge des deutschen Konzerns „Trumpf“ teilnehmen, der heute in der Lehrlings-Ausbildung ganz andere Wege geht. 

Toll, dass ihr dieses Thema ins Symposium mit einbezieht, weil das Thema „Lehrlinge“ in der Bildungsdiskussion oft untergeht.

Was ist euch wichtig, den Lehrlingen „mit auf den Weg“ zu geben?

Zur Ausbildung gehört natürlich das fachliche Können, dass man von der Arbeit etwas versteht,  auch darüber reden zu können, dass das einen Wert hat – denn die Leute verstehen das gar nicht mehr, wenn es Schuhe um 19,90 gibt, warum das viel Arbeit sein soll. Sehr wichtig ist uns auch, ein Verständnis davon zu vermitteln, wie es mit unserer Branche im globalen Zusammenhang ausschaut. Was beispielsweise die Folgen sind, wenn eine Industrie immer den billigeren Löhnen folgt. Dazu muss ich aber etwas ausholen:

Als ich 1980 ins Schuhgeschäft gekommen bin, da ist es gerade losgegangen, dass österreichische Betriebe begonnen haben, auch in Portugal zu produzieren. Dann ist die Produktion nach Ost-Europa ausgelagert worden, dann nach Fernost und jetzt werden 60 Prozent aller Schuhe in China erzeugt – und die Chinesen lagern die Schuhindustrie zunehmend nach Äthiopien aus, weil dort die Arbeitsstunde 10 Cent kostet.

Ich bin jetzt 64 Jahre alt und man kann sagen, dass sich dieser Prozess de facto innerhalb einer Generation oder meinentwegen innerhalb meiner Berufs-Lebensspanne vollzogen hat. Ich habe diese Situation in Äthiopien mit eigenen Augen gesehen. Am Stadtrand von Addis Abeba entsteht eine neue Industriehalle neben der anderen in einem Ausmaß, das für europäische Verhältnisse nicht vorstellbar ist. Äthiopien hat 1970 gut 30 Millionen Einwohner gehabt und jetzt knapp 100 Millionen, das heißt: da gibt es Unmengen von Leuten, die eine Arbeit suchen – um jedem Preis! Damit will ich sagen, dass das für mich auch zur Bildung dazugehören würde, dass wir von diesem Missbrauch der Not wegkommen – und letztlich legen wir mit diesem Missbrauch das Saatgut für die nächsten Flüchtlingswellen.

Auf der anderen Seite gibt es in Österreich nur noch acht Firmen, die Schuhe herstellen. Es ist mir wichtig, diese Aspekte der globalen Zusammenhänge begreiflich zu machen. Und dann sollen natürlich diese sozialen Fähigkeiten erlernt werden, wie zum Beispiel Verantwortung tragen können, mitbestimmen lernen, erfahren, dass Leben immer ein Geben und Nehmen ist. Ich sage immer: in meinem Mensch-sein ist es wahnsinnig beglückend, wenn ich auch geben kann und handeln darf. Oder um es mit Stefan Sagmeister zu sagen – ich habe gerade seinen Film gesehen – der es mit folgendem Satz auf den Punkt bringt: „Helping other people helps me!“

Deine Erinnerungen an deine Schulzeit?

Mein Know-how in der Schule hieß: mit dem minimalsten Aufwand durchkommen – und mein Sohn, vielleicht eh geschädigt durch mich, hat später zu mir immer gesagt: das „sehr gut“ für den ökonomischen Schüler ist das „genügend“.

Im bestehenden Bildungssystem keine unkluge Entscheidung. Gerald Hüther hat einmal gemeint, dieses System erzeuge „lustlose Pflichterfüller“. Nur, wenn ich den lustlosen Pflichterfüller habe, habe ich auch den perfekten …

Konsumenten! Ohne Zweifel. Dabei geht der Begriff „Bildung“ ja fast vom Gegenteil aus: Und Gott schuf den Menschen nach seinem EbenBILD. Im Englischen gibt es zum Beispiel nichts Vergleichbares. In der deutschen Sprache geht der Begriff auf den Mystiker Meister Eckhart zurück, der quasi etwas radikalisiert gesagt hat: Gott kann nur in dir und durch dich existieren – wenn du aber dein Leben verfehlst, dann gibt es auch Gott nicht. Ich zitiere dir jetzt diesen einen Satz von ihm, weil er mich schon seit über 40 Jahren begleitet: „Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen … und so weit, nicht mehr und nicht weniger, geht Gott ein mit all dem Seinen, so weit du dich des deinen entäußerst.“ Bezogen auf unsere Zeit würde Meister Eckhart etwas salopp sagen: je weniger du am Mercedes, an der Karriere, am schönen Haus und an weißgottwas hängst, umso mehr kann dieser göttliche Funke, der dir ins Herz gelegt ist, zur Entfaltung kommen – und das kannst du nicht durch Tun und Leistung erreichen, sondern nur durch Lassen, durch Zu-Lassen. Und je mehr uns das gelingt, das Lassen und das Zu-Lassen, umso mehr wird der Mensch Mensch, und je mehr er Mensch wird, umso mehr ist er Gottes EbenBILD. Imago dei … das Bild des Gottes. Daher das Wort BILDung.

Dieser „göttliche Funke“ – er erinnert mich an das, was Sobonfu Somé einmal gesagt hat: In ihrer Kultur der Dagara in Burkina Faso in Afrika gehen die Menschen von dem Gedanken aus, dass jedes Kind mit einem Geschenk auf die Welt kommt – und dieses Geschenk, das es mitbringt, ist: sein Talent. Dieses gilt es – und das ist auch die Aufgabe der Gemeinschaft – zur Entfaltung zu bringen. Können die Kinder dieses Geschenk nicht übergeben und zur Entfaltung bringen, macht es die Kinder krank – und letztlich auch die Gemeinschaft, da sie um alle diese wunderbaren Talente kommt. 

Das leuchtet einem wunderbar ein. Und natürlich: von dieser Sichtung der Talente der Kinder sind wir mit unserem Schulbetrieb meilenweit entfernt. Aber dieses Schulsystem killt ja auch die Lehrer. Ich bin überzeugt davon, dass ein Riesenteil der Lehrer mit einem guten Willen ins Rennen geht. Aber das, was dann nach zehn Dienstjahren noch an gutem Willen da ist, ist nur mehr eine homöopathische Dosis.

Wenn wir auf das Symposiums-Thema – „Welche Bildung braucht die Zukunft?“  – zurückkommen, was für Lösungsansätze hättest du da für diese Misere?

Dazu möchte ich dir drei Begriffe nennen, an denen man sich orientieren könnte. Aber vorerst: Am 16. Dezember 2016 haben wir die Anerkennung für einen neuen Genossenschaftsverband gekriegt. Seit mehr als 80 Jahren ist das in Österreich niemandem gelungen – und wir haben auf diesem Weg, ein Genossenschaftsverband zu werden, auch alle nur möglichen Schikanen und Schwierigkeiten erlebt. Und das Verbandwerden war deswegen so wichtig, weil es für eine Genossenschaft Pflicht ist, Mitglied in einem Verband zu sein. Ich wollte aber nicht Mitglied bei Raiffeisen sein und Schulze-Delitzsch, der Volksbanken-nahe Verband, wollte uns irgendwie nicht. Das, was wir wollten – damit sind wir dort nicht durchgekommen.

Und jetzt haben wir einen eigenen Genossenschaftsverband und wir sagen, das eigentliche Ziel von diesem Verband soll es sein, die Ursprünge der Genossenschaftsidee wieder wachzuküssen – und die wichtigsten Prinzipien der Genossenschaftsidee sind: Selbsthilfe, Selbstorganisation und Selbstverantwortung. Ich finde das ein schönes Bild und spüre auch, dass viele junge Leute dieser egomanischen Wirtschaft der letzten Jahrzehnte eigentlich misstrauen und eine Sehnsucht haben nach dieser gemeinsinnigen Wirtschaft. Darum ist auch Christian Felber mit seiner Botschaft von der gemeinwohlorientierten Wirtschaft so erfolgreich.

Und ich hoffe, dass wir mit unserem neuen Genossenschaftsverband – den wir „Rückenwind“ nennen – auch Rückenwind sein können für diese gemeinwohlorientierte Wirtschaft. Und eben: Selbsthilfe, Selbstorganisation und Selbstverantwortung sind da wichtige Säulen der Orientierung, wohin die Reise gehen soll.

Diese drei Begriffe würdest du für eine Schule der Zukunft reinreklamieren?

Ja, und ich halte es für wahrscheinlich, dass wir in Zukunft auch Formen des Widerstandes lernen müssen, denn diese Konzern- und Finanzherrschaft zerstört wahnsinnig viel, was im Gewebe der Gesellschaft als Warmes und Wohltuendes da ist.

Ich muss ein wenig schmunzeln, denn „Formen des Widerstands“ als Bildungsziel – das scheint mir noch ein weiter Weg zu sein, bis das in der Schule ankommt.

„Die weiße Rose“ als Pflichtlektüre!! Das waren ja so wahnsinnig junge Leute. Und die heutigen Jugendlichen – schau nur – die haben alle ein Gefühl für Gerechtigkeit. Sie haben auch ein Gefühl dafür, dass der göttliche Funke in jeden von uns gelegt ist und nicht eine Frage von Rasse oder Syrer und Nicht-Syrer ist.

Aber leider hat die Wirtschaft in fast jedem Bereich quasi das letzte Wort. Ob wir was machen können oder nicht, läuft scheinbar letztlich immer darauf hinaus: ist ein Geld da oder ist kein Geld da. Und wenn kein Geld da ist, ist eine Idee meist auch schon gestorben, nicht? Die Wirtschaft hat so die Deutungshoheit für den gesellschaftlichen Prozess und dabei passieren unglaubliche Blödheiten: dass wir keine Schuhe mehr machen können und keine Textilien mehr machen können, dass die Bauern den Boden vergiften – aber es ist ein besseres Geschäft und so weiter … Und manchmal sage ich: der Unsinn müsste den Wirtschafts-Nobelpreis kriegen, weil er der größte Arbeitgeber auf der Welt ist! Und obwohl das so ist – wir können beweisen, dass diese Wirtschaft alles hin macht – behaupten die weiterhin, die Deutungshoheit zu haben. In Wirklichkeit müsste man sagen: Ihr seid die Letzten, die mitreden dürfen, weil das, wohin ihr uns geführt habt, ist schrecklich. Wir wollen umkehren – aber auch in der Bildung spielt das natürlich eine wichtige Rolle, nutzbar für diese Wirtschaft zu werden.

Moreau – der Chefredakteur von unserer Zeitschrift „brennstoff“ – hat mir neulich ein schönes SMS geschickt, wo er sagt: „Es gibt immer drei Fragen über die Sinnhaftigkeit einer Aktion: Nützt sie dem Menschen? Nützt sie der Umwelt? Nützt sie dem Frieden?“ Und diese Fragen sind so irgendwie ein bisschen ein Wegweiser – sind wir richtig unterwegs oder sind wir falsch unterwegs?

Vieles steht Kopf. Rudolf Steiner hat vor über hundert Jahren gesagt, die europäischen Grundwerte wurden auf den Kopf gestellt: Wir haben die Freiheit in der Wirtschaft, die Gleichheit in der Bildung und Kultur und die Brüderlichkeit im Rechtswesen – und meinte, das gehöre wieder „auf die Füße gestellt“.   

Richtig – warte, lass es mich sagen: Freiheit in der Bildung, in den Gedanken und den Künsten, Gleichheit vor dem Gesetz und Brüderlichkeit in der Wirtschaft. Das ist es, was ich in der Firma mindestens 30 Mal im Jahr laut sage … (Gelächter)

Was sagst du noch laut in der Firma?

Als ich 19 Jahre alt war, bin ich mit einem Freund und mit unseren Mopeds von Schwanenstadt (Oberösterreich) nach Tansania gefahren. Die Reise hat ein halbes Jahr gedauert und was ich auf dieser Reise gelernt habe, war: es gibt im Leben nichts Wichtigeres als das Leben!

Und nicht nur auf die Firma, sondern auch auf das Bildungswesen bezogen – könnte es das heißen: es geht in eine gute Richtung, wenn dieses am „Leben dran bleibt“?

Keine Frage!

Wenn dieses sich vom Leben abkehrt …

… verfehlt es das Ziel. Und vergessen wir die Liebe nicht! Vielleicht eine kleine Geschichte zum Schluss: Sehr gerne diskutiere ich mit meinen Neffen und Nichten (im Alter von 3 bis 14 Jahren) über unsere Firmengrundsätze: 1. Scheiß di ned au!  2. Bitte, sei ned so deppat! … mit großer Ernsthaftigkeit, dass nichts im Leben uns mehr hindert als die Angst. Es ist aber so, dass es genug Situationen im Leben gibt, wo Mut alleine nicht genügt. Und drum ist unser zweiter Grundsatz auch sehr wichtig, nämlich nicht deppat zu sein, sondern klug. Eines Abends diskutieren wir wieder über unsere Firmengrundsätze, da fragt mich die kleine Rosi: „Heini, habt ihr nicht auch noch einen dritten Firmengrundsatz?“ Ich dachte bis dahin, dass diese zwei Grundsätze genug wären. Ich wollte sie aber nicht enttäuschen, drum sagte ich: „Ja, freilich haben wir noch einen dritten Grundsatz.“ Und während Rosi noch fragte: „Und wie heißt der?“, dachte ich mir, mutig und klug sind Einbrecher auch, jedoch fehlt ihnen die sinnvolle Orientierung. Und so sagte ich zu Rosi: „Unser dritter Grundsatz ist der allerwichtigste, und er heißt: Orientiere dich an der Liebe!“

Danke! Wir freuen uns schon auf die Podiumsdiskussion.