„Die Welt ist eine sehr fragile geworden“

Was 2011 als gemeinnütziger Verein begann, ist bis heute zu einer großen Online-Plattform angewachsen, auf der Menschen jeden Alters Informationen zu über 6000 Jobmöglichkeiten erhalten. Rainer Wisiak sprach mit whatchado-Mitbegründer Ali Mahlodji über sein Projekt und darüber, wie wir in naher Zukunft zwei wesentliche Bereiche unserer Gesellschaft – „Arbeit“ und „Bildung“ – mit ziemlicher Sicherheit neu denken müssen.  

Herr Mahlodji, wofür steht der Name „whatchado“?

Der Name kommt aus dem amerikanischen Slang und steht für die Frage „What do you do?“, die man etwas salopp mit „Und was machst Du so?“ übersetzen könnte.

Eine Frage, auf die Sie bis jetzt über 6000 Antworten „gefunden“ haben. 

Was ist das Konzept hinter „whatchado“?

Die Idee dahinter ist, Jugendliche bei ihrer Berufsorientierung zu unterstützen, indem wir ihnen auf unserer Website Video-Interviews mit verschiedenen Berufstätigen vorstellen. In diesen Videos erzählen Menschen von ihrem Beruf und Werdegang. Die Videos, die wir produzieren, unterliegen immer demselben Konzept: Alle Menschen, die wir interviewen, müssen dieselben 7 Fragen beantworten [siehe Info-Box auf Seite 11], auch ich, auch meine Mama (lacht …). Über die Jahre hinweg haben wir nach diesem Konzept nun über 6000 solcher Job-Portraits angefertigt, vom Brot-Verkäufer bis zum Bundespräsidenten, vom Friedensnobelpreisträger bis hin zum Nachbarn von nebenan.

Und für solche Portraits ist bei uns wirklich jeder herzlich willkommen. Wir haben bei uns im Team eine Person, die rennt nur durch die Gegend und interviewt einfach Menschen – und dann kostet das  auch nichts. Wenn aber ein Arbeitgeber kommt und sagt, er möchte die 30 Jobs, die es in seinem Unternehmen gibt, portraitieren, dann kostet das natürlich was. Mittlerweile arbeiten wir mit über 200 Unternehmen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zusammen und sind dabei, den globalen Roll-out zu planen, denn „whatchado“ macht nur Sinn, wenn alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem sozialen Status ihre Geschichte erzählen können.

Begonnen hat es im Jahre 2011, aber ganz anders …

Ja, ganz anders! (lacht) Wir haben 2011 als gemeinnütziger Verein gestartet. Mit einer kleinen Kamera um 400 Euro hatten wir 17 Interviews aufgenommen … es war eine Katastrophe, keiner von uns hat eine Kamera halten können. Irgendwie hat der ORF von uns erfahren und gesagt, wenn wir das noch vor der Schulzeugnis-Vergabe online stellen können, würden sie einen kurzen Bericht über uns bringen.

So haben wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unsere Website zusammengeschustert und alles online gestellt. Um 9 Uhr in der Früh waren wir fertig und am Abend mit einem Zweieinhalb-Minuten-Bericht in der „Zeit im Bild“. Und dann ist es losgegangen! Am nächsten Tag haben schon Firmen angerufen und gesagt: Super Plattform! Können wir auch dabei sein? Man muss sich das vorstellen: Ich war damals Lehrer am Gymnasium und habe genug zu tun gehabt. Auch die anderen Gründer hatten Vollzeitjobs oder waren Studenten. Und dann ruft eine Firma an und sagt, sie wollen 30 Videos! Und wir hatten diese kleine Kamera und haben zögerlich geantwortet, dass wir am darauffolgenden Samstag vielleicht zwei Videos drehen könnten. Und die eine Firma sagte: Nein, sie bräuchten 30 Videos und was das kosten würde? Und ich dachte mir: Die zahlen dafür? Ich meine, jetzt hatten wir diese Berufsorientierungs-Plattform, die ich mir als Kind immer gewünscht hatte – und plötzlich kommen da nun Unternehmen und sind bereit, dafür zu zahlen?

Und so haben wir gesagt: Wenn jemand bereit dazu ist, dafür zu bezahlen, cool – denn dann können wir das Ding wirklich selber wirtschaftlich weiter finanzieren. Wir brauchen dazu nur ein paar klare Spielregeln – und die wichtigste Spielregel für uns war: Alle beantworten dieselben 7 Fragen! Das war im ersten Jahr noch recht schwierig, weil wir den Leuten klar machen mussten: Es ist UNSER Konzept, WIR stellen die Fragen und IHR könnt mitmachen – oder auch nicht. Da wir alle noch Vollzeitjobs hatten, waren wir zum Glück nicht aufs Geld angewiesen. Denn was wir wollten, waren Geschichten, wie sie ein Erwachsener unter vier Augen einem Jugendlichen im Wirtshaus erzählt. Und so ist es geblieben: Wenn wir merken, jemand bewirbt die Firma, in welcher er tätig ist, neben dem eigentlichen Interview als die tollste und dynamischste, brechen wir das Video ab. Wir haben im ersten Jahr auch 7 Unternehmen abgelehnt.

War „whatchado“ also finanziell immer unabhängig?

Ja, weil recht rasch immer mehr Unternehmen dazukamen. Und weil wir Unterstützung von Privatpersonen wie dem „Business-Angel“ Johann Hansmann und später Brigitte Ederer (Siemens) oder Peter Püspök (Raiffeisen) bekamen, die uns ihr Know-how oder ihre Finanzkraft zur Verfügung stellten, damit wir damals auch Richtung Deutschland wachsen konnten.

Denen hat alleine unsere Vision imponiert: ein virtuelles Handbuch für junge Menschen zu erstellen, die nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Eine Plattform, die den jungen Menschen zeigt: Egal, wo du herkommst, egal, wie alt du bist, egal, was deine Eltern sagen, welches Geschlecht du hast, wie dein Vorname lautet – es gibt tausende Wege auf dieser Welt! Schau dir diese Lebensgeschichten anderer Menschen an und du wirst merken, dass es nicht nur den einen, sondern tausende Wege gibt …

Ich versuche auch immer, Leute mit großer Erfahrung „an Bord“ zu holen – so ist beispielsweise Gerald Hüther mein Mentor geworden. Er hat auch das Vorwort zu meinem neuen Buch geschrieben und mit ihm zusammen habe ich das Projekt „whatchaskool“ gestartet, mit welchem wir in die Schulen gehen und Inspirationsvorträge für Kinder halten. Auf diese Weise haben wir letztes Jahr über 50.000 Schüler erreicht.

Sie meinten vorhin, sich mit „whatchado“ einen Kindheitstraum erfüllt zu haben. Wie ist das zu verstehen? 

Wie viele Jugendliche mit 14 Jahren war auch ich damals recht orientierungslos – hatte aber damals schon die Idee für ein Handbuch der Lebensgeschichten, in dem Menschen aus der ganzen Welt über ihr Leben erzählen. Und dann hatten wir in der Schule halt auch diese Freundschaftsbücher, ich glaube, die kennt jeder noch aus seiner eigenen Schulzeit – und ich wollte genau dasselbe Konzept für den Arbeitsmarkt: Ein Erwachsener klebt sein Foto rein und alle beantworten dieselben Fragen – nur eben jetzt zu ihrem Job und zu ihrem Werdegang. Und ich habe mir damals gedacht: Wenn es so ein Buch in jeder Schule geben würde, ausgedruckt, dann könnte endlich jedes Kind unabhängig von den Eltern oder von Erwachsenen dieses durchblättern und schauen, wie andere Menschen ihr Leben leben oder Ideen zu möglichen Berufen sammeln.

Mit „whatchado“ ist aus diesem Traum von damals dann eben eine virtuelle Plattform geworden. Aber die Idee dahinter ist dieselbe geblieben. Ich möchte, dass junge Menschen sagen: WOW – diese Vielfalt gibt es? Und dass sie zu sich sagen: Ich kann ja alles machen, was ich will! Denn Joborientierung ist bei „whatchado“ oder „whatchaskool“ ja nur ein Überbegriff – aber im Wesentlichen geht es immer um Potenzialentfaltung. Es geht darum, jedem Kind klarzumachen: Du bist gut genug, du musst nicht repariert werden. Und sie dazu einzuladen, sich ihre eigene Meinung über die Welt zu machen und zu verstehen, zu was sie alles fähig sind. Oft haben sie das halt vergessen, weil ihnen immer jemand gesagt hat: Bei diesem Test mit 20 Beispielen hast du vier Fehler gemacht – aber leider nicht: du hast 16 Beispiele richtig gelöst.>>

Sie umschreiben das oben Gesagte oft mit dem Begriff „Selbstwirksamkeit“. In einem Interview meinten Sie einmal: „Es ist der größte Erfolg meines Lebens, ein selbstwirksames Leben zu haben.“ Was verstehen Sie darunter, ein „selbstwirksames Leben“ zu führen?

Wir sind eine Gesellschaft geworden, die getrieben ist. Und schauen Sie, wenn Sie einen Menschen nach dem Warum fragen, wird er Ihnen lediglich antworten: Oh, wir haben eben alle Stress! Aber wir haben nicht mehr den Säbelzahntiger, der uns jagt und wo wir immer in Angriffsstellung gehen müssen, diese Zeiten sind vorbei. Dennoch laufen alle Menschen wie verrückt in einem Hamsterrad. Doch je mehr sie das Tempo auch erhöhen und je mehr sie erreichen – glücklicher werden sie nicht. Und so laufen sie halt noch mehr …

Was ich im Laufe meines Lebens gelernt habe, ist: sich bewusst zu sein, was da gerade für „Spiele“ laufen, woher unsere Ängste kommen, warum wir tun, was wir tun. Und zu verstehen: Ich muss nicht jedes Spiel mitspielen, ich muss nicht Teil dieser verrückten Leistungsgesellschaft sein, es gibt auch andere Möglichkeiten. Ich muss nicht immer nur gute Noten schreiben und es ist in Ordnung, wenn ich nur in manchen Dingen gut bin, dafür aber meine Potenziale kenne und dieses mein Leben lebe. Wenn ich es im Zustand der Achtsamkeit lebe, wo ich wirklich eigene Entscheidungen treffe – und nicht nur solche, die gesellschaftlich gewünscht sind. Das würde ich ein selbstwirksames Leben nennen – und ich denke mir, ein solches zu führen, dazu hat jeder auf dieser Welt ein Recht. Das bedeutet aber auch, dass man schon von Kindheit an die Chance bekommt, den eigenen Weg zu gehen, statt vorgetretene Pfade gehen zu müssen.

Unser derzeitiges Schulsystem bereitet Kinder und Jugendliche aber nicht gerade darauf vor, ein selbstwirksames Leben zu leben … 

Ja, dabei wissen wir ja schon lange, wie Kinder gerne und gehirngerecht lernen würden. Schauen Sie, wenn man ein Auto kauft und es ist ein Benziner, dann tut man ja auch keinen Diesel rein. Und bei einem Kind – oder beim Menschen – weiß man ja mittlerweile, wie das Gehirn funktioniert und dennoch macht man genau das Gegenteil – mit Angst führen und und und …

Ich meine, ganz ehrlich, was ist das auch für ein System, wo man bis zu seinem 18. Lebensjahr einen Erwachsenen fragen muss: Darf ich aufs Klo? Ich meine, was ist denn das für eine Welt? Ganz ehrlich – Bio-Hendln aus Bodenhaltung haben mehr Freiheiten als Kinder in unserem Schulsystem …

Wie wäre Ihr Entwurf einer kindgerechten Schule?

Meine Schule wäre eine – wie es schon manche davon gibt – wo neue Lernformen eingeführt würden. Eine, in welcher die Lehrer mehr zu Begleitern würden. So etwas führt zu selbstwirksamen Entscheidungen, wo sich das Kind dann nicht mehr in einer Art Bittsteller-Rolle sieht, sondern als Teil einer lebendigen Gesellschaft, denn, noch einmal: Ein selbstwirksames Leben zu leben bedeutet für mich zu jedem Zeitpunkt im Hier und Jetzt zu sein – und nicht andauernd getrieben durch Schuld und Scham.

Und ich glaube immer weniger an ein Gebäude als Schule. Ich sehe da immer mehr eine Art „großen Dorfplatz“ vor mir mit Riesen-Stationen … einen Ort, der aber auch nicht aufhört. Also: wenn du 34 bist und wieder Fragen zum Leben hast, dann gehst du wieder dort hin. Es wäre kein Ort, wo die 12-Jährigen in einer Ecke und die 16-Jährigen in einer anderen Ecke sitzen würden, sondern da kommen Menschen zusammen, die sich im Leben einfach immer wieder die wesentlichen Fragen stellen wollen.

Und in meiner Schule der Zukunft würde „Gemeinschaft“ das wichtigste Wort werden. Die Schule der Zukunft wäre für mich eine Gemeinschaft von Menschen, deren großes Ziel es ist, dass sie ein Gemeinwohl für alle hat. Es wäre für mich also weniger ein Gebäude als die Auslegung einer Gesellschaftsform.

Ich schätze da auch Länder, die innovativer sind. In England gibt es ein Unterrichtsfach, das heißt „Achtsamkeit“, in den nordischen Ländern investiert man viel in die Elementarpädagogik, hat man für dieses Alter ganz kleine Gruppen, weil man weiß, dass die kleinen Kinder die Rohdiamanten sind …

Österreich ist auch das einzige (!) EU-Land, in dem die Elementarpädagogik-Ausbildung noch als Variante einer gymnasialen Oberstufe durchgeht. Vor Jahren war das noch in Österreich und Malta so, inzwischen hat Malta mit der EU gleichgezogen und die Ausbildung auf Uni-Niveau angehoben … 

Das ist wie beim Fußball – da haben uns die Maltesen ja auch einmal geschlagen, nicht? (lacht …)

Soweit ich mich erinnern kann, war es lediglich ein Unentschieden. (lacht …)

Das Thema dieser Freigeist-Ausgabe lautet „Ressourcen“. Was fällt Ihnen spontan dazu ein?

Meine Eltern. Die haben mich nie gebremst. Die haben gesagt, ich soll alles hinterfragen, ich soll rebellisch sein. Die haben immer gesagt: egal, was deine Lehrer sagen – du bist gut genug, du schaffst das schon, du machst das schon. Wenn ich mit einem Vierer nach Hause gekommen bin, hat meine Mutter immer gesagt: Ach, zum Glück habe ich einen Sohn, der normal ist. (lacht …)

Ist „Bildung“ eine Ressource? Kann sie es noch sein?

Erstens: Für mich hat Bildung nichts mit der aktuellen Schule zu tun, denn dort wirst du nur darauf vorbereitet, in einem Büro wieder das zu tun, was andere dir sagen …

Und zweitens: Die Arbeitswelt, die nimmt keine Rücksicht auf die Bildungswelt! Schau dir die Automatisierung an, die da kommt, die ganzen Roboter. Früher ist erzählt worden: Wenn du brav die Matura machst, dann hast du es geschafft! Wenn einer heute Matura hat, klassisch, wenn der nicht selbstständig denkt, sondern Befehlsempfänger ist wie in der Schule gelernt, ganz ehrlich – mit dem kannst du in zehn Jahren am Arbeitsmarkt nichts mehr anfangen, weil du die kreativen, selbstschöpferischen Menschen brauchst. Ich glaube, dass wir in zehn Jahren einen kompletten Wandel haben werden. Es ist prognostiziert, dass es 65 Prozent der Jobs, die wir in zehn Jahren haben werden, heute noch gar nicht gibt. Wir erkennen erst langsam die Tendenz. Beim Flughafen in Frankfurt checkst du dein Gepäck selber ein. Rechtsanwälte? Es gibt mittlerweile Software-Algorithmen, die bessere Verträge ausarbeiten als jeder Anwalt.

Und wie schafft man es aber, Menschen auf so eine Welt vorzubereiten, wo wir die Fragen der Zukunft nicht mehr beantworten können? Weil wir merken: Wir sind keine Experten der Zukunft!

Das schafft man nur, indem man den Menschen klar macht, was ihre Stärken sind, indem sie diese selbst entdecken, indem man den Menschen die Zuversicht gibt, im Hier und Jetzt bewerten zu können, was da draußen passiert – aus der EIGENEN Wahrnehmung heraus und nicht beruhend auf dem, was andere sagen. Denn dann kann die Welt da draußen sich verändern. Wenn man in seiner Selbstwirksamkeit, in seiner inneren Stärke dasteht, kann um einen herum alles passieren …

Es ist auch eine sehr fragile Welt geworden und ich bin sehr dankbar, dass das endlich so ist, weil dieses Sicherheitsnetz der letzten Jahrzehnte – lebenslanger Job, der Arbeitgeber kümmert sich und dann kommt der Staat – das ist eine Selbstlüge unserer Welt, die niemals halten konnte.

Und immer mehr Leute werden sich die Frage stellen: Shit – kann es sein, dass die wesentlichen Dinge, die unser Bildungssystem ständig propagiert, dann gar nicht mehr gelten? Was ist da los? Und in Kombination mit den Veränderungen in der ganzen Welt wird man plötzlich merken: Wir brauchen ein NEUES Bildungssystem, eines das dich nicht für Kompetenzen, die du scheinbar brauchst, ausbildet, sondern eines, das dich in deinen inneren Stärken ausbildet, damit du mit diesen Veränderungen da draußen umgehen kannst. >>

Auf Ihrer Homepage bezeichnen Sie sich selber als „einen Fehler im System“. Ein Fehler in welchem System?

Ich gehe immer ganz stark von dem System aus, wie ich als Kind die Schule erfahren habe. Weil ich stotterte und Angst vor der Matura hatte, brach ich sechs Monate vor dem Abschluss die HTL ab. Da hieß es dann ganz schnell: Oje, Flüchtlingskind, und jetzt auch noch die Schule hingeschmissen – das kannst du vergessen!

Danach jobbte ich in meinem Leben in über 40 verschiedenen Jobs, vom Bauarbeiter über Apothekenaushilfe bis hin zum Unternehmensberater, habe berufsbegleitend die Matura nachgeholt und dann studiert – ein reiner Zick-Zack-Kurs. Und ich erinnere mich – wenn ich nach dem Schulabbruch mit Bildungsexperten über meine Interessen mit den Menschen gesprochen habe, haben die immer gesagt: Nein, so macht man keine Karriere, nein, so geht das nicht! Ali, hast du schon einmal jemanden gesehen, der das so und so macht? Darauf habe ich immer gesagt: Dann bin ich halt der Erste!

Heute habe ich ein Unternehmen mit 50 Leuten, bin EU-Jugendbotschafter, bin jede Woche in Schulen, mache Lehrer-Weiterbildungen oder bin Keynote-Speaker bei verschiedensten Kongressen weltweit.

Dort liegt Ihr Fokus oft auf dem Schwerpunkt „Menschen und ihr Potenzial“. Sie sprechen aber auch über das Thema „Simplicity“ – was bedeutet das für Sie?

In den letzten zwei, drei Jahren bin ich immer wieder von großen Konzernen eingeladen worden, von Lufthansa, SAP oder so. Die haben jetzt eine komplexe Größe – aber Komplexität ist etwas, das niemandem was bringt.

Dort sage ich in den Vorträgen dann oft, was wir Menschen leider Gottes für ein Problem haben, ist: Wenn es eine neue Möglichkeit gibt, eine neue Technologie, irgend etwas Cooles, Neues, dann machen wir den Fehler: Wir schmeißen uns sofort auf das Ding drauf, wollen es unbedingt machen, weil es cool ist. Und übersehen dabei – oder stellen uns gar nicht die Frage: Brauchen wir das überhaupt?

Zum Beispiel: Breitband zu Hause. Da schreien alle gleich wie verrückt: JA, ALLE BREITBAND! Obwohl das vielleicht gar nicht alle zum nur Emails-Schreiben brauchen, ja? Und wir Menschen sind schlechte Wesen darin, unsere Möglichkeiten zu erkennen, denn alles, was so kommt, wird gleich einmal genommen. Nur weil wir uns sieben Paar Schuhe leisten können, kaufen wir uns auch gleich sieben Paar Schuhe, und weil wir uns den fettesten 7-er BMW leisten können, der schweinemäßig was verbraucht, den halt auch noch, weil es geht ja …

Und „Simplicity“ in diesem Zusammenhang bedeutet, dass sich immer mehr Menschen auf die Frage fokussieren: Was sind die Dinge, die wir wirklich brauchen? Für unsere Ziele, die wir haben. Thema „Ressourcen“ und Bodenschätze der Erde: Nur, weil wir sie abbauen können – müssen wir uns wirklich jedes Jahr ein deppertes neues Handy besorgen? Brauchen wir das wirklich? Jedes Jahr nämlich?

Es ist im Leben tausendmal schwieriger, simple Lösungen zu finden anstatt komplexe Lösungen. Es ist irrsinnig einfach, Dinge aufzubauschen, tausend Prozesse drüberzulegen und zu sagen: Ja, dieses Handy braucht wirklich das und das und das, hauen wir alles rein, pfeifen wir auf die Erde. Schwieriger ist es, simpel zu denken. Was ist es, was wir wirklich brauchen? Das gilt für unser ganzes Leben. Ich sehe das auch in meinem Freundeskreis: Da kriegt einer eine Gehaltserhöhung und plötzlich gibt’s einen zweiten Fernseher, ein zweites Auto, die Urlaube werden teurer … alles wird immer aufgeblähter, aufgeblähter – nur weil man die Möglichkeiten dazu hat? Und dann gibt es weltweit aktuell eine Gegenbewegung dazu, die betont wieder das Minimale. Diese Leute sagen: Nur, weil wir die Möglichkeiten dazu haben, müssen wir alles so aufbauschen? Sind wir wahnsinnig?

Und auch in der Management-Welt geht man mittlerweile her und sagt: Da gibt es ein Unternehmen, riesengroß, 40.000 Mitarbeiter … und früher hat man für Veränderungen das bestehende System genommen und hat immer ein bisschen angepasst. Heute beginnt ein Manager teilweise bei Restrukturierungen von der „grünen Wiese“ weg und fragt: Brauchen wir denn diese Komplexität, die wir da haben oder geht es nicht auch viel einfacher?

Oder schauen Sie sich das Bildungswesen an! Das Bildungswesen ist – weil man es halt so macht – riesengroß, komplex. Mittlerweile kennt sich kein Schwein mehr aus, wer trifft welche Entscheidungen, wie, was, wo, alle regen sich auf, keiner weiß mehr, an welcher Schraube muss man jetzt wirklich drehen …

… 2013 kritisierte der Rechnungshof die damals noch laufenden 5.367 (!) Schulversuche in Österreich …

… dabei könnte, wenn du mit Leuten redest, einem Gerald Hüther zum Beispiel, Schule so SIMPEL sein!

30 Prozent von der aktuellen Stofffülle – und 70 Prozent der Zeit für die Potenzialentfaltung?

Ja, denn Simplicity bedeutet aus meiner Sicht auch: genau das zu tun, was notwendig ist. Was ist notwendig? Also, wenn mich jemand fragen würde: „Warum bist du geboren worden, Ali?“ Dann würde ich antworten: „Ich bin angetreten, um Menschen daran zu erinnern, welches Potenzial sie haben.“

Ein anderes Zitat von Ihnen lautet: „Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch umsetzen!“

Was ich in meinem Leben gesehen habe, als ich in den Konzernen gearbeitet habe, war: Es gab immer Mitarbeiter, die kommen her, haben super Ideen für die Lösung eines Problems, nur dann stehen halt zehn Arbeitskollegen drum herum und sagen: Geh bitte, also ganz ehrlich, das funktioniert nicht, das vergiss …

Und wenn ich damals selber solche Ideen gehabt habe, war ich stinksauer und habe immer versucht, die Leute zu überreden, warum es doch funktionieren kann. Und ich habe gemerkt: Ich renne da gegen Windmühlen an. Bis ich verstanden habe: Wenn hundert Leute sagen, das oder das funktioniert nicht, dann haben diese Menschen auch recht! Weil es in ihrem Weltbild nicht funktioniert – das muss man verstehen. Wir Menschen – das sagen viele kluge Leute – sind die Summe unserer Erfahrungen. Und die Summe dieser Erfahrungen und wie wir die Welt kennengelernt haben, hat mich dazu gebracht, Lösungen für Dinge zu sehen, wo andere keine Lösungen sehen – und umgekehrt! Früher war ich sauer, bis ich verstanden habe: Die Menschen um mich herum, auch mein bester Freund, der kann UNMÖGLICH die Welt mit meinen Augen sehen. Denn er hat nicht meine Eltern gehabt, der hat zu Hause nicht dieselben Geschichten gehört, der hat nicht dieselben Schicksalsschläge gehabt, hat nicht dieselben Belohnungen bekommen, nicht dieselben Klamotten, was weiß ich …

Und dann habe ich eines gemerkt – und das sage ich auch allen Kindern: Wenn du dir WIRKLICH vorstellen kannst, dass etwas existieren kann, wenn du wirklich eine Lösung für ein Problem siehst – dann ist das deine Wahrheit! Aber: Du kannst nicht darauf vertrauen, dass jemand anderer diese Wahrheit in die Welt bringt … diesen Geist in die Materie bringt … das ist verdammt noch mal deine Aufgabe!

Ihr Zitat erinnert mich ein wenig an ein Zitat der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger, die vergangenes Jahr verstorben ist: „Alles woran man glaubt, beginnt zu existieren!“

Das ist auch so! Nur: Man muss schon die Hände aus dem Hosensack nehmen und es auch tun. (lacht …)

Vielen Dank für das Gespräch.

Gerne.