In einem Vortrag, den Maria Montessori 1945 in ihrem Exil in Indien hielt, finden sich folgende Worte: „Wonach suchen wir denn wirklich im Kind? Fast immer sind wir auf der Ausschau nach Fehlern – nicht nur nach denen, die es gemacht hat, sondern auch nach denen, die es machen könnte.“ An späterer Stelle führt sie aus: „Das Einzige, was wir wirklich tun müssen, ist, unsere Grundhaltung gegenüber dem Kind zu ändern und es zu lieben mit einer Liebe, die an seine Persönlichkeit glaubt und daran, dass es gut ist; die nicht seine Fehler, sondern seine Tugenden sieht, die es nicht unterdrückt, sondern es ermutigt und ihm Freiheit gibt.“ ¹
Die Forderung, den Blick vorrangig auf die Tugenden, Stärken und Talente der Kinder zu legen, zieht sich wie ein roter Faden durch den reformpädagogischen Diskurs des vergangenen Jahrhunderts. Was aber ist damit gemeint, dem Ausschauhalten nach Fehlern, jener „Defizitkultur“, die unser öffentliches Schulwesen immer noch in so hohem Maße prägt, nicht jenen Stellenwert zukommen zu lassen, den wir ihr aktuell zukommen lassen? Heißt das beispielsweise nur, der natürlichen Schreibentwicklung der Kinder von der phonetischen Schreibweise hin zur genormten Rechtschreibung mehr Zeit und Raum zu geben? Oder geht es letztlich gar darum, den komplexen Prozess des „Fehlermachens“ in den Mittelpunkt allen pädagogischen Handelns zu stellen?
Am eindringlichsten, so scheint es mir, ist Heinrich Jacoby dieser Frage nachgegangen, dem es zeitlebens wichtig war, dass in den Schulen nicht „gelernt“, sondern Themen „erarbeitet“ würden, denn:
„Von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen bedeutet `Lernen´, möglichst schnell dazu zu gelangen, möglichst wenig Fehler zu machen bzw. die `richtigen´ Antworten zur Verfügung zu haben. `Erarbeiten´ bedeutet von demselben Standpunkt aus gesehen das Entgegengesetzte, nämlich: immer am Falschen zu erfahren, entdecken, erarbeiten, was weniger falsch ist, und dadurch nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist. …
Nehmen Sie ein Rätsel: Glauben Sie, dass ein Mensch, dem Sie zuerst die Lösung mitteilen, das Rätsel noch erraten könnte? Er kann dann höchstens feststellen, dass er nun versteht, warum diese Lösung die Lösung des Rätsels ist. Aber um das, was beim Rätselraten reizt und Spaß macht, gerade um dieses produktive Munterwerden, durch das Kinder entfaltet werden, betrügen wir sie, wenn wir Lösungen mitteilen. Ich könnte grob vereinfachend auch sagen, man müsste der jungen Generation alles Kulturgut in Form von Rätseln nahe bringen, um sie zu zwingen, selbst probierend herauszufinden, was jeweils das Richtige ist, wie doch auch wir, wenn wir Spaß an Rätseln haben, mit großer Beharrlichkeit probieren, verwerfen und wieder probieren, bis wir die Lösung gefunden haben.“ ²
Etwas überspitzt formulierte es Heinrich Jacoby einmal so: „Ich wünsche mir oft, dass über dem Eingang zu unseren Schulen stünde: `Hier sollt ihr Spaß am Falschmachen haben!´“
Aber ist das, so frage ich mich, nicht der Lauf des Lebens? Schreiten oder stolpern wir von Erfahrung zu Erfahrung nicht ebenso vom Falschen zum weniger Falschen hin zum immer Richtigeren? Und wäre die Liste der ForscherInnen, EntdeckerInnen und KünstlerInnen nicht eine unendlich lange, die auf diesem Wege zu ihren Erkenntnissen oder Zielen gelangt sind? Wie treffend hat das André Heller in seinem neuesten Buch formuliert, wenn er von seinen Projekten erzählt, „die gelungenen und die schwächeren, auf denen die gelungenen immer aufbauen.“ ³
Und wenn dies nun der Lauf des Lebens ist, um wie viel mehr müssten wir den Kindern zugestehen, was der Montessori-Pädagoge Claus-Dieter Kaul in seinem Buch „Die zehn Wünsche der Kinder“ fordert: „Lasst uns Fehler machen!“
¹ Montessori, Maria: „Die Macht der Schwachen.“ Herder Verlag, 1989
² Jacoby, Heinrich: „Jenseits von `Begabt´ und `Unbegabt´.“ Hans Christians Verlag, 2004
³ Heller, André: „Uhren gibt es nicht mehr.“ btb Verlag, 2018