Transmission jenseits der kognitiven Ebene

Martin Kirchners Lebensthemen drehen sich um den Aufbau von “Gemeinschaften für den Wandel”. Er entwickelte nach vielen Jahren Recherche und Engagement im Global Ecovillage Network das Projekt Cohousing Pomali, wo er seit Ende 2013 mit seiner Frau und drei Kindern mit großer Freude auch lebt. Davor war Martin lange Jahre auf der Suche nach seiner „Berufung“. Seine Sinnsuche und sein Entwicklungsweg vom Informatiker zum Social Entreneur bzw. auch die Umsetzung seiner Vision einer nachhaltigen Modellsiedlung waren durchaus schwierig. Er hätte so etwas gebraucht wie das „Jahrestraining Pioneers of Change“, das er schließlich 2010 ins Leben rief – weil es nichts Vergleichbares gab. Über die Jahre entstand daraus eine Community und schließlich eine Bewegung von engagierten „Pionier*innen des Wandels“. Martin ist seit 2015 Vollzeit-Geschäftsführer der Non-Profit-Organisation „Pioneers of Change“ und fokussiert sich mittlerweile auf das Online -Potenzial für einen gesellschaftlichen Wandel, z.B. auf den „Pioneers of Change Online Summit“, mit dem er heuer im März 22.000 Teilnehmer*innen und 150 Regionalgruppen im deutschsprachigen Raum begeistern konnte. Freigeist-Redakteur Paul Braunstätter traf ihn zum Gespräch.

Wie funktioniert ein Online-Summit?

Ich mache Interviews mit Pionier*innen wie Jane Goodall, Gerald Hüther oder Frithjof Bergmann, der ja auch schon in der Lernwerkstatt war. Also bekannte Leute oder zum Beispiel auch junge Menschen, mit denen man sich identifizieren kann, die gerade am Weg sind, ihre Dinge zu entwickeln. In einem gewissen Zeitraum sind diese Interviews dann im Internet freigeschaltet und so entsteht Momentum und bei denjenigen, die sich das anschauen, das Gefühl, sie sind Teil einer Gemeinschaft, in diesem Fall einer gesellschaltlichen Bewegung für einen tiefgreifenden Wandel. 

Dabei geht es uns darum, dass es nicht nur beim individuellen Kommunikationskonsum bleibt, wo jeder in seinem Wohnzimmer alleine sitzt. Sondern wir unterstützen, dass Menschen einladen zu Regionaltreffen. Dabei können einerseits gemeinsam Videos geschaut werden, um sich mit Ähnlich-Gesinnten darüber auszutauschen, was man gelernt hat. Andererseits begleiten wir dann auch, dass aus diesen unverbindlichen Treffen laufende Gruppen wachsen rund um die Frage, wie können wir einander gegenseitig unterstützen, um unser Potential und das Potential unserer Regionen zu entfalten. 

Und wie wird dieses Angebot 

angenommen?

Wir waren total überrascht, wie der Online-Summit ankommt und wie emotional die Leute darauf reagieren. Viele haben gesagt, das hätte ihr Leben verändert. Durch die Interviews mit den Leuten, die oft über Skype geführt werden, entsteht eine persönliche Nähe, das hat oft eine Herzensqualität. Es findet ein Dialog statt, in dem Menschen sehr offen von ihrem Leben erzählen, das ist etwas anderes als ein Vortrag, dadurch passiert offensichtlich leichter ein Transfer und viele Leute fühlen sich inspiriert und aufgeladen, verändern ihre Sicht auf unsere „Welt im Wandel“ oder denken auch: „Wenn der das kann, dann kann ich es auch“. 

Was ist die Basis der Arbeit von „Pioneers of Change“?

Wir bieten seit 2010 Seminare und Jahrestrainings, wo wir Menschen helfen, ihre Visionen klar zu bekommen und in ihre Kraft zu kommen. Dabei geben wir ihnen Werkzeuge in die Hand, alleine und vor allem auch mit anderen gemeinsam sinnvolle Initiativen und Projekte zu starten. Vor allem leben wir eine andere Kultur, in der wir gut in einer authentischen und herzlichen Verbindung sind – mit uns selbst und allem um uns herum. 

Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?

Oft kommen Leute in unsere Jahresprogramme mit Ideen, was sie machen wollen, und kommen dann drauf: „Das war nur im Kopf, es ist irgendein Konzept, das ich überhaupt nicht spüre, wo ich wen beeindrucken wollte. Was will ich eigentlich, wer bin ich eigentlich und was sagt mein Herz?“ Das ist übrigens auch der Konnex zum Thema „Herzensbildung“, wie höre ich überhaupt auf mein Herz, meine innere Stimme?

Haben wir eigentlich nicht in unserem Bildungssystem verlernt, dahinter zu kommen, was wir wirklich wirklich wollen, wie Frithjof Bergmann sagt?

Ja, voll! Wir sind dazu trainiert, Dinge zu erfüllen und nach zu produzieren, die von uns erwartet werden. Darum ist auch die Arbeit, die ihr in der Lernwerkstatt macht, oder die in anderen alternativen Schulprojekten oder -experimenten verrichtet wird, so wertvoll. Ich bin davon überzeugt, dass wir bereits jetzt und vor allem in der Zukunft anderes brauchen, nämlich dass wir kreativ sind und gut mit uns verbunden, dass wir mit unseren Herzen verbunden sind und empathisch mit unserem Gegenüber und allen umgehen können. Und dass wir Ideen haben, wie wir unser gemeinsames Leben anders gestalten können – kreativer, fröhlicher, partzipativer, emanzipierter, nachhaltiger …

Mit unserem Herzen verbunden zu sein führt uns zum Thema dieser Ausgabe des freigeists. Was bedeutet für dich Herzensbildung?

Herzensbildung ist für mich nichts anderes als Potentialentfaltung. Das heißt, mich ganz zu spüren mit allem, wer und was ich bin, auch meine Schattenseiten zu kennen, zu integrieren und nicht abzuspalten. Und aus diesem Ganz-Sein heraus auch gut mit anderen und deren Schattenseiten umgehen zu können.

Ist nicht die Fähigkeit, dass man sich selbst spürt und anerkennt, die Voraussetzung dafür, mit anderen unvoreingenommen umgehen zu können?

Ich glaube, es ist ein Prozess, wo wir mehr und mehr lernen, Muster, die in unserer Gesellschaft üblich (und übel) sind, ent-lernen und uns trauen, unser wahres Ich zu entdecken und zu leben. In unseren Kursen erleben wir immer wieder, dass Teilnehmer*innen sagen: „Endlich kann ich so sein, wie ich bin und werde angenommen und nicht kritisiert“. Dazu braucht es eine Atmosphäre, in der es okay ist, wie du bist und auch deine Schatten sind okay, die brauchst du nicht verstecken. So lernen wir, unsere Masken abzunehmen – oder nur dann einzusetzen, wenn es uns dient. Eigentlich befinden wir uns gerade in einem tiefgreifenden Kulturwandel. Wenn ich so schaue, welche Normen in der Gesellschaft gegolten haben, sehe ich schon einen Befreiungsprozess, in dem wir uns über die Jahrzehnte befinden. Ich glaube, ein wichtiger Schritt der Herzensbildung ist der Schritt vom Kopf ins Herz, wo ich mich im Kopf befreien kann und dabei gleichzeitig vielleicht immer noch in sehr vielen Urteilen hänge – auch über mich selbst oder über mein Umfeld. Wesentlich ist dann eine „Herzöffnung“, eine innere Verbindung, wo ich  in einem wohlwollenden Gefühl liebevoller Güte ankomme. Das ist die gesunde Basis, auf der das gute Leben für alle wachsen kann und auf der ein wirklicher Wandel entstehen kann. 

Wenn wir im Kopf unsere Konzepte haben, was die Welt braucht, was wir machen sollten, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen, glaube ich, dass wir meist Muster reproduzieren, die uns dorthin gebracht haben, wo wir sind. Diesen „Großen Wandel“ braucht es meiner Meinung also nach nicht nur im Außen, sondern auch im Inneren. Das bedeutet für mich: Gut ankommen, in mir selbst wahrnehmen, wer ich bin, welche Bedürfnisse da sind und diesen zarten inneren Impulsen folgen zu lernen. Christian Felber hat ein Buch über die innere Stimme geschrieben. Er ist ein politisch aktiver Mensch und hat für sich gleichzeitig ganz viel geforscht, wie wir auf diese innere Stimme hören und ihr gehorchen können. Dazu müssen wir lernen, aus dem Hin- und Herargumentieren im Kopf auszusteigen und in ein inneres Gewahrsein zu kommen, zu „was stimmt wirklich“ und diesen Impulsen einfach zu folgen.

Christian nennt das „Herzgehorsam“. Das ist oft nicht leicht, vor allem, wenn man erst damit anfängt in einer Kultur, wo es oft darum geht, anderen zu gefallen. Da braucht es oft viel Mut, die ersten Schritte zu tun und das kann manchmal auch konfrontativ sein. Wenn wir das aber >>

üben und immer mehr diesem Kompass der inneren Stimme folgen, wird das Leben einfacher, es wird „stimmig“ – und das hat etwas Entspannendes. 

Das hat ja auch mit dem Loslassen von alten Mustern und Gewohnheiten zu tun …

 … und Erwartungen! Wir treffen oft Entscheidungen danach, weil wir es anderen Menschen recht machen wollen. Das ist nicht die Form von Herzensbildung, die ich meine, wo wir nett zueinander sind und uns gegenseitig etwas recht machen! Marshall Rosenberg, der Gründer der gewaltfreien Kommunikation, sagte: „Don’t be nice, be real“; also dabei geht es nicht darum, dass wir Harmonie herstellen, indem wir uns verstellen oder Impulse unterdrücken. Im Gegenteil: es geht darum, dass wir unsere Wahrheit leben. Das ist oft herausfordernd, wenn man das jedoch öfter macht, wird es leicht.

Eine Voraussetzung für gewaltfreie Kommunikation ist ja die Fähigkeit, bei sich selbst zu bleiben, zu reflektieren, wie geht es mir mit dir, mit dem, was du machst, wie du auf mich wirkst. Das geht ja in die gleiche Richtung.

Ja, gewaltfreie Kommunikation fängt damit an, dass ich mich selbst gut spüre und mit mir selbst Empathie habe. Wenn ich das gut kann, habe ich auch die Kapazität, anderen Empathie zu geben. Wir unterscheiden da zwischen Sympathie und Empathie. Bei der Sympathie bin ich voll beim anderen, sodass ich mich darin sogar verlieren kann. Empathie hingegen bedeutet, dass ich sowohl gut bei mir als auch beim anderen bin. 

Wie du das beschreibst, handelt es sich dabei um einen Prozess, den man mit sich selbst macht. Wie kann man das an andere im Sinne einer Ausbildung weitergeben?

Das ist für mich ein Phänomen oder eigentlich ein Mysterium: Ich erlebe sowohl in unseren Trainings und Kursen als auch mit den Online-Interviews, dass es so etwas gibt wie Transmission (ein Begriff aus dem tibetischen Buddhismus), in der Beziehung zwischen Menschen wird irgendetwas übertragen – jenseits der kognitiven Ebene. Gerald Hüther sagt, wir sind nicht voneinander getrennt, alleine könnten wir z.B. gar keine Sprache haben. 

Wir sind in diesem Sinne immer Teil von sozialen Feldern, in denen etwas von einem auf andere übergeht. Ich glaube zum Beispiel, wenn ich mich in meinem Berufsweg dafür entschieden hätte, in die große Konzernwelt zu gehen – mit der Idee, das ein paar Jahre lang zu machen und dann erst etwas, was ich wirklich sinnvoll finde, dass dieses kulturelle, soziale Feld dort hochgradig auf mich gewirkt und mich als Mensch verändert hätte. Ich wäre ein anderer Mensch geworden – und wer weiß, hätte ich jemals so zu mir gefunden und zu dem, was ich sinnvoll finde.

Und genauso ist etwa die Lernwerkstatt ein kulturelles soziales Feld. Wenn Menschen da reinkommen, gehen Verhaltensmuster (wie manche Begriffe oder die Sprache) ganz von selbst über, ohne dass man es mitkriegt. So entsteht ein Feld, wo Menschen in ihrer Ganzheit und in ihrem authentischen Ausdruck willkommen sind und dazu angeregt sind, ihre Individualität zu leben, ihr Potenzial zu entwickeln. 

Du fragst, wie man diese „Selbstverbindung“ in einer Ausbildung weitergeben kann. Ich glaube, es ist  schwierig, das in einem Curriculum zu definieren. Ich merke bei jeder Art von Bildungsangebot, dass die innere Haltung der Person, die dazu einlädt, den Raum oder den Lernprozess zu eröffnen, essenziell ist.

Und überträgt sich diese Haltung auf die anderen?

Die überträgt sich und ich habe über die Jahre gelernt, das ist der Unterschied von dem, was wir mit „Pioneers of Change“ machen, zu klassischen Startup-Programmen; es ist einfach anders. Weil es nicht darum geht, anderen zu gefallen und damit ein Muster von „schneller, höher, weiter“ zu reproduzieren, sondern weil es um Stimmigkeit geht, um Echtheit und Annehmen, was ist.

Man kann ja schon bei kleinen Kindern beobachten, wie sie von Eltern, Geschwistern und anderen Personen, mit denen sie viel Kontakt haben, deren Verhalten nachahmen.

Genauso habe ich zum Beispiel als Leiter von unserem Jahrestraining gesehen, dass ich mich da hinstelle und authentisch bin, ohne eine professionelle Maske vor mir herzutragen, wen ich denn als Lehrgangsleiter darstelle; dass ich mir nix scheiß‘ mit all meinen Schwächen, mit meiner Emotionalität berührbar bin, ermöglicht es den Menschen, sich selbst zu trauen, berührbar zu sein. Natürlich gibt es dann schon noch Methoden und Übungen, mit denen man speziell die Aufmerksamkeit darauf richten kann. Vieles aus der Visionssuche-Arbeit und Outdoor-Pädagogik hilft da. Ich schätze auch die Arbeit von Peter König sehr, wo man mit inneren Schattenanteilen arbeitet, die integriert und so aus dem Urteilen rauskommt. Aber was im Kern zählt, ist die innere Haltung, die Handlungsebene ergibt sich eigentlich aus diesem Inneren. Wenn wir also einen Rahmen schaffen, wo wir diese Herzverbindung kultivieren – in unseren Familien, Organisationen, etc., – dann sind wir an vielen kleinen Orten sozusagen Pionier*innen einer Kultur der Verbundenheit – und ich vertraue darauf, dass dies die Basis ist für einen gesellschaftlichen Wandel im Großen.

Schön, danke für das Gespräch.

Info: 

pioneersofchange.org 

Jahrestraining „Lead your Change“:  

pioneersofchange.org/lead-your-change