Ein Portrait über #FridaysForFuture von Rainer Wisiak.
Greta Thunbergs Rede vor dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU in Brüssel am 21. Februar 2019 beginnt mit den Worten:
„Mein Name ist Greta Thunberg. Ich bin eine Klimaaktivistin aus Schweden. Zehntausende Kinder sind auf den Straßen Brüssels im Schulstreik. Hunderttausende auf der ganzen Welt tun das Gleiche.“
Hunderttausende? Ja, Hunderttausende. Noch ein halbes Jahr zuvor protestierte Greta Thunberg mit einem Schild mit der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet“ („Schulstreik für das Klima“) alleine vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm, zwei Wochen lang jeden Tag, danach nur noch einmal pro Woche am Freitag. Was danach passiert, ist der Beginn einer unglaublichen Geschichte:
Diverse schwedische Zeitungen berichten von der erst 15-Jährigen, die im Mai 2018 einen Schreibwettbewerb zur Umweltpolitik gewonnen hatte, Sachkenntnis zeichnete sie aus. Kevin Anderson, Professor für Klimawandel und Energie an den Universitäten Manchester und Uppsala, sagte in einem Interview: „Ich habe in den Gesprächen mit ihr oft den Eindruck, mit einer jüngeren Kollegin unseres Instituts zu diskutieren. … Greta weiß unglaublich viel über den Klimawandel, und sie lernt ständig dazu.“
Ist es ihre Sachkenntnis, die existenzielle Ernsthaftigkeit ihrer Sprache oder ihr Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, die so viele Menschen zu begeistern vermag? Fakt ist: Nachdem die Zeitungen von ihrem Protest berichtet haben, schließen sich schon Wochen später Schüler und Schülerinnen in rund hundert schwedischen Kommunen ihrem Protest an und versammeln sich freitags vor den Rathäusern. Nach ihrer Rede bei der weltweit aktiven Bewegung „Extinction Rebellion“ („Rebellion gegen das Aussterben“) am 31. Oktober in London verbreitet sich Greta Thunbergs Idee in einem atemberaubenden Tempo um die ganze Welt. Ende November streikten in Australien, jenem Land, das seine Energie zu 80 Prozent aus Kohlekraftwerken bezieht, bereits mehr als 10.000 Schüler gegen den Klimawandel. Greta Thunberg sieht darin den Kipppunkt der #FridaysForFuture-Bewegung: >>
„Australien öffnete viele Türen. Danach haben sie in Deutschland, Belgien und in zahllosen anderen Ländern mitgemacht. Dann ist es einfach eskaliert.“
Greta Thunberg wird zur UN-Klimakonferenz 2018 in Katowice, zum Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos und im April 2019 zum Umweltausschuss des EU-Parlaments eingeladen, ihre dort gehaltenen Reden verbreiten sich im Internet viral. Sie selbst, die zu den Konferenzen mit der Bahn oder dem Elektroauto anreist, findet es schade, dass es einen so riesigen Fokus auf sie als Person gibt und nicht auf die Bewegung oder die Klimakrise selbst. „Aber wenn Journalisten über mich schreiben, dann müssen sie auch über die Klimakrise schreiben. Wenn es mir dabei hilft, dass mehr über die Klimakrise geschrieben wird, dann ist das okay für mich“, meinte sie kürzlich in einem Interview für den FALTER.
Eine der Kernpositionen Thunbergs ist, dass die Politik viel zu wenig für den Klimaschutz tue und damit unverantwortlich gegenüber jüngeren Generationen handle. Vor dem Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU in Brüssel rügte sie die Politiker: „In dem politischen System, das Sie geschaffen haben, dreht sich alles um Wettbewerb. Sie betrügen, wenn Sie können, weil Gewinnen und Macht erhalten alles ist, was zählt. … Und wenn Sie immer noch behaupten, wir würden `wertvolle Unterrichtszeit vergeuden´, dann lassen Sie mich daran erinnern, dass unsere führenden Politiker durch Verleugnung und Untätigkeit Jahrzehnte vergeudet haben. Und da uns die Zeit ausgeht, haben wir beschlossen, aktiv zu werden. Wir haben angefangen, Ihren Mist aufzuräumen.“ Noch deutlicher wird sie auf der R20-Klimaschutzkonferenz im Mai 2019 in Wien: „Zu lange sind die Machthaber damit davongekommen, unsere Zukunft zu stehlen, um sie für Profite zu verkaufen. Aber wir jungen Leute wachen auf. Und wir versprechen, wir werden euch nicht mehr damit davonkommen lassen.“
Es eilt – und keine Partei, so Thunberg, sei „auch nur nah dran an dem, was eigentlich getan werden müsste.“ Ob es neue, radikalere Parteien braucht? „Ehrlich gesagt, glaube ich, wir haben nicht mehr genug Zeit dafür. Ich denke, alle Parteien müssen jetzt zusammenarbeiten, damit sie die notwendigen Veränderungen schaffen können.“
Denn: „Laut dem Bericht des Weltklimarates sind wir noch elf Jahre von einem Punkt entfernt, an dem wir eine irreversible Kettenreaktion in Gang setzen, die sich jeglicher menschlichen Kontrolle entzieht. Um das zu verhindern, müssen im kommenden Jahrzehnt beispiellose Veränderungen in allen Aspekten der Gesellschaft erfolgen.“ Sind wir dazu bereit? Sind wir dazu bereit, unsere Komfortzone zu verlassen? Oder fürchten wir, wie Greta Thunberg meint, „die Veränderungen, die den katastrophalen Klimawandel verhindern können, mehr als den katastrophalen Klimawandel selbst?“
Mit ihren Ansagen macht sie sich naturgemäß nicht nur Freunde. Von Klimaleugnern und rechten Politikern erntet sie – vor allem in den sozialen Medien – oft diskreditierende Kommentare. Diese zielen meist auf ihr Alter, ihr Geschlecht oder das Asperger-Syndrom, welches bei ihr diagnostiziert wurde, ab. So meinte etwa die ehemalige Parteisprecherin der AfD, Frauke Petri: „Das ist also das wissenschaftliche Niveau der Klimadiskussion 2018. Eine 15-jährige Schwedin, die jeden Freitag die Schule schwänzt, aber mehr zu wissen glaubt als tausend Wissenschaftler. Infantil!“
Dass Greta Thunberg heuer die 9-jährige schwedische Grundschule trotz ihrer Schulstreiks mit hervorragenden Noten abschloss, wird da gerne verschwiegen. Wie überhaupt „viele Politiker, die über den Schulstreik für das Klima reden, über fast alles andere sprechen außer über die Klimakrise selbst. Viele versuchen, die Schulstreiks zu einer Frage zu machen, ob wir Schulschwänzen fördern oder ob wir in der Schule sein sollten oder nicht. Sie versuchen verzweifelt, den Fokus von der Klimakrise wegzulenken und das Thema zu wechseln.“
Als der amtierende australische Premierminister Scott Morrison die Schul-streiks in seinem Land mit den Worten „Wir wollen mehr Lernen und weniger Aktivismus in der Schule!“ kommentierte, erwiderte Greta Thunberg via Twitter nur kurz: „Sorry, Mr. Morrison. Können wir nicht erfüllen.“ Und auf diese Thematik angesprochen, meinte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, er habe selbst als junger Mensch immer nur in seiner Freizeit demonstriert. Kennt er den Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der ausdrücklich auf das Recht des Streikens hinweist? Und dieses Recht, so könnte man meinen, gilt wohl für Schüler genauso wie für Arbeitnehmer. Und wenn Werktätige streiken, machen sie das ja auch nicht in ihrer Freizeit, sondern sie tun es während der Arbeitszeit, um ihrem Begehren mehr Nachdruck zu verleihen.
Es ist offensichtlich, dass es Greta Thunberg primär nicht ums Schuleschwänzen geht – ebensowenig um Ruhm oder Profite, denn die gesamten Erlöse aus dem Verkauf ihrer Bücher gehen an acht gemeinnützige Organisationen. Ihr geht es darum, mit ihren Aktionen möglichst viele Menschen auf der Welt mit der Teilnahme an den friedlichen Protesten für die drängendste Aufgabe unserer Zeit zu sensibilisieren, vor allem aber zu mobilisieren: die Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaabkommens. Oder die Latte für diese Ziele sogar noch höher zu legen. Was sie sich wünscht? „Ich will, dass ihr handelt, als befändet ihr euch in einer Krise. Ich will, dass ihr handelt, als stünde euer Haus in Flammen. Denn das ist der Fall.“
Was ihr zu wünschen wäre? Dass die Idee, die sie mit #FridaysForFuture in die Welt gebracht hat, weiter wächst. Aus Solidarität mit den Schülern wurde inzwischen die #ScientistsForFuture-Bewegung gegründet – mit mehr als 16.000 Wissenschaftlern allein im deutschsprachigen Raum, die der Jugend argumentativ den Rücken stärkt, gefolgt von #ParentsForFuture. #TeachersForFuture ist gerade im Aufbau begriffen. Warum also nicht auch #FarmersForFuture oder #JournalistsForFuture?
Was ich uns wünsche? Ein ernsthaftes Bemühen, unsere Komfortzonen zu verlassen. Was mich betrifft, habe ich vor sechs Jahren beschlossen, keine Flugreisen mehr zu unternehmen. Das Auto teile ich inzwischen mit fünf weiteren Personen und wir halten einander dazu an, nur die notwendigsten Fahrten zu unternehmen – in naher Zukunft möchte ich nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein. Ich denke, das könnte ein Anfang sein und orientiere mich grundsätzlich an Gandhis Vorschlag: „Sei Du selbst die Veränderung, die Du in der Welt sehen möchtest.“